Die Tote im Badehaus
das heißen?«
»Harumi war mit meinem Bruder Ryu verheiratet, und während sie bei unserer Familie gewohnt haben, kam Setsuko zur Welt. Ryu ist Anfang der fünfziger Jahre gestorben – Kriegsverletzungen. Danach war es sehr schwer für unsere Familie. Und es gab so wenig zu essen … Harumi und Setsuko wurden als eine Last empfunden.«
»Harumi hat doch sicher gearbeitet, um Ihrer Familie zu helfen?« fragte ich. Mir tat die verwitwete, belagerte Schwiegertochter leid.
»Ja, die arme Frau arbeitete in der Nähe der amerikanischen Marinebasis in Yokosuka. Sie hat den Matrosen die Schuhe geputzt, aber meine Eltern dachten, sie hat noch mehr getan.« Sie senkte die Stimme. »Harumi wurde schwanger. Als es nicht mehr zu verbergen war, hat sie den Haushalt verlassen.«
»Soll das heißen, sie ist ausgestoßen worden?« Ich war entsetzt.
»Ja, denn sie wußten nach der Geburt ihrer Tochter Keiko, daß es ein amerikanischer Seemann war. Es war unfaßbar, aber der Amerikaner ist bei ihr geblieben. Er konnte sie nicht heiraten, aber er hat sie in einem kleinen Haus untergebracht, in dem es eine Waschmaschine gab!«
»Hat Setsukos Mutter danach weiter mit diesem Mann zusammengelebt? Weshalb ist er nicht hier?«
»Er mußte zwei Jahre später in die Vereinigten Staaten zurück. Harumi hat mir die Waschmaschine verkauft, weil sie das Haus nicht halten konnte, und dann hat sie wieder auf der Basis Schuhe geputzt. Als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, haben Setsuko und Keiko neben ihr in einer Pappschachtel geschlafen.«
So hatte also die Frau, von der ich gedacht hatte, sie sei privilegiert geboren worden, einmal unter Kartons geschlafen, wie die Obdachlosen in meinem Viertel. Es war unvorstellbar.
»Ich habe sie von Zeit zu Zeit besucht, um ihnen alte Kleider und so zu bringen. Aber sie sind in einer fürchterlichen Umgebung aufgewachsen, die Harumi und Keiko umgebracht hat!«
»Wie denn?« Ich hätte mich fast auf sie gestürzt.
»Harumi wurde von einem betrunkenen Amerikaner getötet, der auf der falschen Straßenseite gefahren ist. Ich habe mir große Sorgen um die beiden Mädchen gemacht, aber mittlerweile hatte auch ich geheiratet und lebte bei der Familie meines Mannes, deshalb konnte ich sie nicht zu mir nehmen. Harumi hatte eine Freundin, die sie in Yokosuka aufgezogen hat.«
»Wie ist Setsukos Schwester, Keiko, gestorben?« Ich bemühte mich, ihr zu folgen.
»Setsuko hat mir erzählt, daß Keiko als Teenager sehr aufsässig wurde. Sie hat ein uneheliches Kind bekommen, Mariko, und hat in Bars mit den amerikanischen Soldaten Drogen genommen. Einmal ist dabei etwas außer Kontrolle geraten. Sie ist von einem Haus gesprungen, und es war aus mit ihr.«
»Und Keikos kleine Tochter Mariko?« Das war eine der traurigsten Geschichten, die ich je gehört hatte.
»Setsuko hat sich darum gekümmert, daß sie versorgt ist, und jetzt arbeitet sie in einer Bank … eine gute Stelle für eine junge Dame. Ich habe sie nie gesehen. Ich würde es gerne, jetzt, wo sie als einzige noch übrig ist.«
»Bei welcher Bank?«
»Das weiß ich nicht genau, aber es ist eine gute in Tokio.« Mrs. Ozawa dachte nach. »Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, hat mich Setsuko gefragt, ob ich Manko nicht etwas hinterlassen wolle. Die Tradition der Ozawas, die Frauen auszustoßen, müsse gebrochen werden. Damals sagte ich zu ihr: ›Liebe Nichte, ich würde ja gerne, aber die junge Frau, um die es geht, ist nicht blutsverwandt mit mir.‹« Sie zwinkerte, weil ihr Tränen in die Augen stiegen. »Das war falsch von mir. Setsuko hat sich umgedreht und ist gegangen, als ich ihr sagte, ich würde Mariko nicht helfen. Ich habe nie wieder von ihr gehört.«
Während dieser Unterhaltung hatte sich mein Bild von Setsuko Nakamura geändert. Wenn es Mariko wirklich gab – immerhin hatte Mrs. Ozawa sie nie gesehen, und Keiko, Marikos Mutter, war tot –, hatte Setsuko sich großartig für sie eingesetzt.
»Ich fühle mich nicht ganz wohl. Ich hätte gerne noch etwas Sake …« Mrs. Ozawa bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Ich half ihr hoch und führte sie aus dem Zimmer. Noch mehr Sake war wohl keine gute Idee für eine niedergeschlagene Frau, die weniger als neunzig Pfund wog. Ich würde auf sie aufpassen müssen. Ich hörte forsche Schritte hinter uns, sah auf und erblickte Mr. Nakamura.
»Was ist?« fragte Mrs. Ozawa, die nicht verstand, weshalb ich nicht weiterging.
»Bitte gehen Sie schon vor, Mrs. Ozawa. Ich komme
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