Die Tote im Götakanal
Erkältung hatte programmäßig ihren Höhepunkt erreicht. Aber zu Hause hielt er es nicht aus – einmal wegen seiner Gedanken und dann auch wegen seiner Frau.
Seit die Kinder ihr zu entwachsen begannen, hatte sie sich mit geradezu fanatischem Eifer in die Rolle der Hausmutter hineingelebt. Für sie waren seine regelmäßig wiederkehrenden Grippeanfälle zum Lebensinhalt geworden wie Geburtstage oder die großen Festtage.
Außerdem hatte sein Gewissen ihm aus irgendeinem Grund nicht erlaubt, zu Hause zu bleiben.
»Warum hängst du hier herum, wo du doch nicht gesund bist?«
»Mir fehlt nichts.«
»Denk nicht zuviel an diese Geschichte. Es ist ja nicht das erste Mal, daß wir Pech gehabt haben.
Und auch nicht das letzte Mal, das weißt du ebenso gut wie ich. Wir werden dadurch weder besser noch schlechter. Ist das überhaupt ein erstrebenswertes Ziel? Ein guter Polizist zu sein?«
»Daran habe ich eigentlich gar nicht gedacht.«
»Grüble nicht soviel, das schadet nur der Moral.«
»Der Moral?«
»Ja, stell dir doch nur mal vor, an wieviel Scheiß man denkt, wenn man sich nur die Zeit dazu nimmt.
Das Grübeln ist die Mutter der Ineffektivität.«
Nach diesem weisen Ausspruch verzog sich Kollberg.
Es wurde ein ereignisloser, trauriger Tag mit vielem Niesen, Spucken und grauer Routine. Zweimal hatte er in Motak angerufen – hauptsächlich, um Ahlberg aufzumuntern, der im Licht des neuen Tages eingesehen hatte, daß seine Erkundungsergebnisse nicht viel wert waren, solange sie sich nicht in Zusammenhang mit der Leiche im Schleusenbecken bringen ließen.
»Wenn man so lange ohne Ergebnis geschuftet hat, ist man geneigt, Dinge überzubewerten.« Ahlberg schien bedrückt und schuldbewußt, als er dies sagte. Es war geradezu herzergreifend.
Das verschwundene Mädchen aus Rang war immer noch verschwunden. Das interessierte ihn nicht. Sie war nämlich nur 1,55 m groß und hatte gebleichte Haare.
Als die Uhr fünf wurde, nahm er ein Taxi und fuhr nach Hause, stieg aber an der U-Bahn-Station aus und ging das letzte Stück zu Fuß. Er wollte der aufreibenden Debatte entgehen, die zweifellos folgen würde, wenn seine Frau ihn mit dem Wagen vorfahren sähe.
Er konnte nichts essen und schlürfte dafür eine Tasse Kamillentee in sich hinein. Nur zur Sicherheit, damit es mir nicht auch noch übel im Magen wird, dachte Martin Beck. Dann legte er sich ins Bett und schlief fast sofort ein.
Am nächsten Morgen fühlte er sich ein wenig besser. Mit stoischer Ruhe trank er einen Becher heißes Honigwasser und aß einen Zwieback. Die Diskussion über seinen Gesundheitszustand und über die unverständlichen Forderungen des Staates an seine Diener zog sich einige Zeit hin, und als er nach Kristineberg kam, war die Uhr schon Viertel nach zehn.
Auf seinem Schreibtisch lag ein Telegramm.
Eine Minute später betrat Martin Beck zum erstenmal während seiner acht Dienstjahre ohne anzuklopfen das Chefzimmer, obwohl die rote Besuchslampe leuchtete.
Kollberg, stets zur Stelle, hockte mit dem halben Hinterteil auf der Schreibtischkante und studierte die Ablichtung eines Wohnungsplans. Hammar saß wie üblich auf seinem Stuhl, den schweren Kopf in die Hände gestützt. Beide blickten erstaunt auf den Eintretenden.
»Ich hab ein Telegramm von Kafka.«
»Heute beginnt der Arbeitstag ja heiter«, meinte Kollberg.
»Er heißt wirklich so. Kollege von der Kriminalpolizei in Lincoln in Amerika. Er hat die Frau aus Motala identifiziert.«
»Per Telegramm?« fragte Hammar verwundert.
»Scheint so.«
Er legte das Telegramm auf den Tisch.
Alle drei lasen den Text:
THAT’S OUR GIRL ALL RIGHT. ROSEANNA McGRAW, 27, LIBRARIAN. EXCHANGE OF FURTHER INFORMATIONS NECESSARY AS SOON AS POSSIBLE KAFKA, HOMICIDE
»Roseanna McGraw«, sagte Hammar. »Bibliothekarin. Das hättet ihr nicht gedacht.«
»Ich hatte eine Theorie«, gab Kollberg zu. »Danach kam sie aus Mjölby. Wo liegt denn Lincoln?«
»In Nebraska, irgendwo im Innern des Landes«, sagte Martin Beck. »Glaube ich jedenfalls.«
Hammar las die Mitteilung noch einmal durch.
»Nun können wir also wieder ganz von vorn anfangen«, meinte er. »Aber jetzt sieht es schon etwas besser aus. Wie mag sie nur in Motala gelandet sein?« Er legte das Telegramm zurück.
»Wahrscheinlich werden wir brieflich bald mehr von ihm hören. Dies hier sagt nicht sonderlich viel.«
»Für den Anfang reicht’s«, sagte Kollberg. »Wir sind nicht verwöhnt. «
»Na, jedenfalls du und ich
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