Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
ehe sie sich aufrappeln konnte, war der andere bei ihr und packte sie an der Schulter. »Sophie, hast du dich verletzt?«
Sie wollte die Hand schon wegschlagen, als sie seine Stimme erkannte. Ungläubig sah sie auf, blinzelte die Feuchtigkeit weg, die sich auf ihren Wimpern abgesetzt hatte.
»Wilhelm?«
»Steh auf, ich helfe dir.«
Dankbar ergriff sie die Hand. Ihre Knie zitterten, aber sie verspürte plötzlich eine abgrundtiefe Erleichterung, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre. »Was tust du hier?«, fragte sie und versuchte erfolglos, das Zittern in ihrer Stimme zu überspielen.
»Ich habe mir schon gedacht, dass du dich nicht davon abhalten lässt, die Hexe selbst aufzusuchen.« Wilhelm zog ein Tuch aus der Tasche, um ihre Hände vom Schlamm zu säubern. »Eigentlich wollte ich zu dir, aber du warst nicht da. Ich bin gleich losgelaufen. Und ich hatte recht, wie ich sehe.« In seiner Stimme schwang leiser Triumph mit.
Sophie lächelte unsicher, während sie wünschte, er möge ewig ihre Hände halten. Seine Finger waren warm und versprachen Halt. Sie war fest entschlossen gewesen, alleine zu gehen, doch nun, da er hier war, verspürte sie tiefe Erleichterung, dass er sie begleiten würde. »Danke«, flüsterte sie und stellte sich auf die Zehen, um ihm einen flüchtigen Kuss zu geben, nicht auf die Wange wie sonst, sondern auf die Lippen, eine winzige Berührung nur, doch sie schien Feuer in Sophies Herz zu entfachen.
Er starrte sie an, als sie sich mit glühenden Wangen zurückzog und verschämt den Blick niederschlug. Sein Adamsapfel hüpfte, als wollte er etwas sagen, doch er räusperte sich nur, zog dann eilig das Tuch zurück und stopfte es in die Manteltasche.
»Deine Mutter weiß jetzt sicher, dass du fort bist«, sagte er rau. »Wir sollten uns beeilen.«
*
Die Sonne stand am Himmel, aber sie war durch den Nebel nur zu erahnen. Sophie hatte gehofft, dass es aufriss, sobald sie das Flusstal hinter sich gelassen hatten, und tatsächlich wurde es ein wenig besser, als sie den Wald oberhalb des Dörfchens Cappel erreichten. Nebelfetzen schlichen zwischen winterschwarzen Stämmen umher, und obwohl es inzwischen auf die Mittagsstunde zugehen musste, war es dämmrig unter den Bäumen.
Sie waren schweigend nebeneinander her gegangen, den Blick auf die eigenen Stiefel gerichtet, wortlos, obwohl Sophie deutlich spürte, dass Wilhelm etwas sagen wollte. Mit zusammengebissenen Lippen hatte sie gewartet, dass er endlich das Wort ergriff, spürte die flüchtigen Blicke, mit denen er sie immer wieder maß, wenn er meinte, sie merke es nicht. Doch er blieb stumm, und auch wenn sie wusste, dass es vermutlich nur eines Anstoßes bedurfte, fand sie die passenden Worte nicht, um es ihm einfacher zu machen.
Schließlich brach Wilhelm das Schweigen. Er blieb stehen, streckte fahrig den Arm aus, um sich an einem Baum abzustützen.
»Warte kurz«, bat er und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
Überrascht hielt Sophie inne, und plötzlich fiel ihr auf, dass sein Atem stoßweise ging. Sie konnte deutlich die Schweißperlen auf Wilhelms Stirn erkennen und die rotstichige Blässe, die sich auf seine Wangen gelegt hatte.
»Geht’s dir nicht gut?« Erschrocken war sie mit einem Sprung bei ihm, zögerte dann aber, als sie ihn stützen wollte. »Was hast du?«
Wilhelm hob den Kopf und lächelte bemüht. »Es ist nichts. Ich … bin nur etwas erschöpft.«
»Und dann sagst du kein Wort!« Sophie sah sich hilflos um. Der Wald um sie herum schien noch finsterer und trostloser als zuvor, und eigentlich wollte sie so schnell wie möglich hier fort. Aber Wilhelm brauchte einen Moment Ruhe. »Sollen wir uns irgendwo setzen? Willst du dich ausruhen?«
»Ja, bitte.« Wilhelms Lächeln zeigte Erleichterung. »Nur einen Moment, dann geht es wieder.«
Sophie schob Wilhelm zu einem umgestürzten Baumstamm, den jemand neben den Weg gezogen hatte. Die Äste hatte man abgeschlagen, die Rinde war feucht und glitschig. Mit einem schweren Seufzer ließ sich Wilhelm darauf fallen und legte den Kopf in den Nacken, atmete tief durch. Sophie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. So glücklich sie auch war, dass Wilhelm sie begleitete, sie hätte es niemals zulassen dürfen, dachte sie betroffen. Julius hatte recht, Wilhelm gehörte ins Bett und nicht auf einen beschwerlichen Marsch quer durch den Wald. Aber jetzt war es zu spät für eine Umkehr. Wenn sie sich beeilten, sollten sie in einer, vielleicht zwei Stunden
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