Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
überzeugend.
Das Tier wütete noch eine ganze Weile, sodass Sophie sich schon fragte, ob es nie müde werden würde. Schließlich ließ es von dem Baum ab und schlich eine Weile knurrend auf und ab, ehe es sich vor dem Stamm hinlegte und ihn bewachte.
Sophie hatte immer wieder besorgt zu Wilhelm hinübergeschaut, der sich stumm festklammerte und die Augen geschlossen hielt. Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben, auf seinen Wangen hatten sich rote Flecken gebildet, und immer wieder rann ein Zittern durch seinen Körper, stark genug, dass sie es trotz des schlechten Lichts sehen konnte. Sophie fror, aber damit konnte sie umgehen. Viel schlimmer war, dass Wilhelm dringend Ruhe brauchte und sich hinlegen musste.
Mit einer Hand hielt sie sich weiter am Stamm fest, um mit der anderen umständlich unter ihrem Rock die Stiefelriemen zu lösen.
Wilhelm öffnete ein Auge, blinzelte zu ihr hinüber. »Was tust du da?«, fragte er schwer.
»Wir müssen hier runter«, gab Sophie entschlossen zurück und zerrte ihren rechten Stiefel hervor. Sie fror in dem dünnen Strumpf, den sie darunter trug, aber das würde sie aushalten können. Wenn sie dafür bald von diesem Baum herunterkämen.
»He, du Monster!«, brüllte sie. »Verschwinde!« Mit aller Kraft schleuderte sie den Stiefel nach dem Untier, verfehlte es aber um eine gute Elle. Das Wesen hob den Kopf, sah dem Stiefel nach und richtete seine kleinen Augen nach oben. Sophie meinte Schadenfreude in ihnen funkeln zu sehen und Blutgier, die neu entfacht war. Das Untier erhob sich langsam.
Hektisch begann Sophie, den anderen Stiefel zu lösen. Sie musste es vertreiben, koste es, was es wolle.
»Du sollst verschwinden!«, schrie sie mit überschlagender Stimme und warf auch den zweiten Stiefel. Dieses Mal traf sie das Tier am Schädel. Es machte ein dumpfes Geräusch, und für einen Moment schien es zu wanken. Doch dann schüttelte es den Kopf und ließ ein dumpfes Knurren hören, wie ein fernes Donnergrollen, welches ein nahendes Gewitter ankündigt.
Hilflos blickte Sophie sich um, suchte etwas, was sie noch werfen konnte. »Wilhelm, ich brauche deine Schuhe!«
»Lass, es hilft ohnehin nicht«, schüttelte Wilhelm matt den Kopf und kniff die Augen zusammen, als sich das Tier erneut gegen den Baum warf, wütender und entschlossener als zuvor. Wilhelm hatte recht, erkannte Sophie bestürzt, was immer dieser Hund war, er hatte schlimmere Dinge erlebt als einen Stiefel.
Wieder und wieder sprang das Wesen an dem Baum hoch, riss mit den Krallen die Rinde ab, fletschte die Zähne und bellte, knurrte, jaulte vor Wut, um dann erneut zu versuchen, an seine Beute heranzukommen. Trotz Wilhelms halbherzigem Protest war Sophie zu ihm hinüber geklettert. Sie gab sich keinen Illusionen hin, sie könnte ihn nicht lange halten, wenn seine Kräfte nachließen, aber vielleicht wenigstens ein paar wertvolle Minuten, bis … ja, was eigentlich? Hilflos lehnte Sophie die Stirn gegen Wilhelms Schulter, bemüht, ihn ihre Verzweiflung nicht spüren zu lassen. In Märchen waren es immer die Prinzen, die auf einem stolzen Pferd geritten kamen und ihre Liebste im letzten Moment retteten, aber darauf durfte sie nicht hoffen. Ihr Prinz saß neben ihr, zitterte vor Erschöpfung und Fieber, und der Einzige, der vielleicht ahnte, wo sie hinwollten, Julius, scherte sich wahrscheinlich einen feuchten Kehricht um sie, nachdem sie sich über seine Anweisungen hinweggesetzt hatten. Oh Gott, betete sie lautlos und biss sich auf die Lippen, damit Wilhelm sie nicht hörte, sei barmherzig und hilf uns. Oder hilf wenigstens Wilhelm, der ohne mich niemals hier oben säße und um sein Leben bangen würde. Ich werde auch niemals wieder … Sie stockte, als sie plötzlich bemerkte, dass das Wesen nicht länger gegen den Baum sprang. Es knurrte, aber die Klangfarbe des Knurrens hatte sich verändert, nicht mehr wütend, sondern unsicher, fast eine Spur ängstlich.
Verwundert hob Sophie den Kopf und riskierte einen Blick hinab, wo das Tier geduckt um den Baum strich, die schiefe Rute zwischen die Hinterbeine gezogen. Und dann sah sie auch, was dem Wesen solche Angst einjagte. Blinzelnd rieb sie sich die Augen, meinte im ersten Moment, einen Engel mit flammendem Schwert zu sehen, der auf den Baum zutrat, doch dann erkannte sie, dass es eine Frau war, die drohend eine Fackel schwang und dabei Zischlaute ausstieß. Tatsächlich schien die Geste ihre Wirkung nicht zu verfehlen, denn das Wesen wich furchtsam
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