Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
unwahrscheinlich – Lotte hatte nach einem Streit meistens Kopfschmerzen und zog sich in ihr Zimmer zurück – , aber Sophie hätte Stein und Bein geschworen, dass Onkel Hugo zur Bewachung abgestellt war. Und so einfältig der gutmütige Onkel auch war, es gab wenig, was ihm entging.
Rasch erklomm sie die Sandsteinstufen, die zur alten Warte hinaufführten, und eilte leichtfüßig über den kurzen Abschnitt der bewachsenen Stadtmauer, bis sie in den Schatten des verlassenen Turms eintrat. Ihr Blick glitt zu Wilhelm, dessen Miene hin- und hergerissen schien zwischen Sorge und stummen Tadel, und für einen kurzen Augenblick fragte sich Sophie, wie sie Wilhelm ihre Flucht erklären sollte. Musste es auf ihn nicht wirken, als laufe sie ihm hinterher, wenn sie ihm gestand, dass sie zu ihm gewollt hatte? Jetzt, als ihr Herz in seiner Nähe wieder zu bumpern begann, fragte sie sich, ob sie nicht doch eine dumme Gans war. Setzte sie ihren guten Ruf aufs Spiel, obwohl sie nicht einmal wusste, ob Wilhelms Herz ebenso galoppierte wie ihres?
»Was ist denn nun?«, unterbrach Pauls ungeduldige Stimme ihre Gedanken. »Was bei allen Toren der Hölle war das gerade? Wolltest du dir den Hals brechen?«
»Zum Halsbrechen bräuchte es ein wenig mehr als eine zerklüftete Wand«, erwiderte Sophie spitz, während sie sich auf dem Boden neben dem Eingang niederließ. »Wie du siehst, bin ich noch am Leben.«
»Du hast Glück gehabt«, stellte Wilhelm fest. Er blieb mit verschränkten Armen im Durchgang stehen. »Ich weiß, wie gut du kletterst, aber von ganz oben war es höchst leichtsinnig. Versprich mir, dass du das nicht wieder machst!«
»Das kann ich dir nicht versprechen«, schüttelte Sophie den Kopf. »Wenn meine Mutter mich noch einmal einsperrt, werde ich wieder hinausklettern müssen.«
»Warte ab, beim nächsten Mal nimmt sie ihr Haar und windet daraus eine Strick«, spottete Paul.
»Dann müsste meine Mutter mich sehr lange dort oben festhalten. Vielleicht sollte ich mir irgendwo ein paar Zöpfe leihen?«, ätzte Sophie zurück. Sie atmete tief ein, bemühte sich dann um ein versöhnliches Lächeln. Sie musste versuchen, mit Paul auszukommen, schließlich war er Wilhelms bester Freund, und Männer pflegten auf ihre besten Freunde zu hören, wenn es um Frauen ging. Das hatte ihr Vater einmal im Scherz gesagt, an einem der vielen Abende, an dem ihre Eltern Besuch hatten und nicht wussten, dass Sophie lauschend unter dem Fenster hockte. »Ich war noch einmal bei Helenes Stiefmutter«, wandte sie sich an Wilhelm. »Ich glaube, dass sie irgendetwas verbirgt. Sie hat Helene getötet.«
»Hast du Beweise?« Pauls Spott war von einem Moment zum anderen verschwunden. »Helenes Stiefmutter ist doch die schöne Katharina Wittgen, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Helene umgebracht hat.«
»Weil sie schön ist? Und schöne Frauen bringen niemanden um?« Sophie spitzte die Lippen. »Da liegt der Hase doch im Pfeffer: Für einen Mann ist eine schöne Frau immer unschuldig! Wahrscheinlich hat Katharina ihren eigenen Mann um den Finger gewickelt und ihn dazu gebracht, die Obduktion zu verhindern!«
»Höre ich da weibliche Eifersucht?« Paul versuchte herablassend zu klingen, aber seine roten Wangen verrieten Sophie, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Vermutlich schwärmte er tatsächlich ein wenig für die schöne Frau Wittgen.
»Ich habe keinen Grund, auf eine Mörderin eifersüchtig zu sein«, gab Sophie schnippisch zurück. »Und außerdem … «
»Hört auf.« Wilhelm hatte nicht laut gesprochen, aber der Nachdruck in seiner Stimme brachte Sophie dazu, augenblicklich zu verstummen. Fragend blickte sie ihn an, verunsichert, ob er es ihr übel nahm, dass sie seinen Freund so anging.
Wilhelm schüttelte kaum merklich den Kopf. »Verrate mir nun endlich, warum du aus dem Fenster geklettert bist«, bat er. »Du hättest dir den Hals brechen können.«
»Ich weiß schon, was ich tue«, widersprach Sophie, aber ihre Stimme hatte an Schärfe verloren. Sie wollte nicht streiten, am wenigsten mit Wilhelm. Deshalb war sie nicht hier. Himmel, warum war die Welt so kompliziert?
»Ich wollte dich suchen«, gestand sie und wandte schnell den Blick ab. »Ich kann nicht in meinem Zimmer hocken und warten, bis meine Mutter mich wieder rauslässt, während Helenes Mörderin frei durch die Stadt läuft. Ich muss mit Julius sprechen. Er ist der Einzige, der mir helfen kann. Aber er schert sich einen feuchten Kehricht um
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