Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
zugezogen hatte. Freundlich konnte sie nicht ausgefallen sein.
Die Würste mussten warten.
*
Sophie hatte unterschätzt, wie tief es unter dem Fenster hinabging. Wenn sie sich sonst aus dem Haus stahl, nahm sie das untere Fenster über dem Schuppen, aber das schied heute aus. Hoffentlich kam niemand vorbei, der sie entdecken und verraten könnte, betete sie inständig, während sie ein letztes Mal hinabschaute und sich dann vorsichtig auf dem Fensterbrett drehte. Es war zwar noch recht früh am Vormittag, aber das Haus war von der Ritterstraße gut einsehbar.
Durchhalten, beschwor sich Sophie stumm und atmete noch einmal durch, ehe sie den Po langsam zurücksinken ließ und ein Bein ausstreckte, um nach einem Halt auf dem Dach zu tasten. Himmel, auf was hatte sie sich da eingelassen! Mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie sich noch ein Stück weiter hinab. Ihre Fingerspitzen brannten, sie wusste, wenn sie stürzte, würde sie sich alle Knochen brechen. Im besten Fall.
Dann spürte sie endlich etwas unter ihren Zehen. Schwer atmend hielt sie inne und wagte noch einmal einen Blick hinab. Sie hatte oft unten gestanden und sich überlegt, wie sie aus dem Fenster aussteigen könnte, aber sie hatte nie gedacht, dass dieser Fall tatsächlich einmal eintreten würde. Von unten sah es gar nicht so schlimm aus, doch jetzt hatte sie das Gefühl, hilflos auf dem Dach zu hängen und keinen Fußbreit weiter zu kommen. Wie war sie nur auf die verfluchte Idee gekommen, aus dem Fenster zu klettern?
»Rechts unter dir!«
Sophie drehte den Kopf, um zu sehen, wer sie angesprochen hatte, und verlor beinahe das Gleichgewicht. Im letzten Moment bekam sie den Fensterrahmen zu fassen.
»Sophie!« Eine zweite Stimme, in der vergeblich unterdrückte Panik mitschwang. »Bist du wahnsinnig geworden?«
»Noch nicht, aber fast«, stieß Sophie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Verdammt, das war Wilhelm. Wahrscheinlich waren die Studenten gerade auf dem Weg zu Savigny und hatten sie hier oben auf dem Dach entdeckt. Soviel zu ihrem Vorhaben, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen.
»Bleib ruhig!«, rief noch einmal die erste Stimme, die sie nun als Paul Wiegands erkannte. »Nach rechts, da ist ein Vorsprung! Dann ist es nur noch ein kleiner Satz zum Schuppendach!«
»Sei einfach ruhig!«, fauchte Sophie, kam aber Pauls Rat zaghaft nach. Sie wusste, dass sie ungerecht war, aber im Moment war ihr alles gleich. Wenn sich doch nur die Mauer auftun und sie verschlingen würde.
Den Gefallen tat ihr das Haus nicht, doch dank Pauls Ratschlägen gelang es ihr tatsächlich, das Dach des angrenzenden Schuppens zu erreichen. Eine kurze Weile blieb sie dort hocken und zwang sich, ruhig durchzuatmen, bis sich ihr Puls beruhigt hatte und ihre Beine nicht mehr zitterten. Dann kletterte sie behände das letzte Stück hinab, schlüpfte durch den Garten hinaus und kam schließlich vor Wilhelm und Paul zum Stehen, die die Gasse hinabgerannt waren und bereits auf sie warteten.
»Mein Gott, Sophie!« Wilhelms Stimme konnte sich nicht entscheiden, ob sie ärgerlich oder grenzenlos erleichtert sein sollte. »Was sollte das?«
»Mutter hat mich eingesperrt.« Sophie zog den Riemen aus dem Nacken, an dem sie ihre Schuhe verknotet hatte. Es kletterte sich besser mit nackten Füßen, aber sie würde Aufsehen erregen, wenn sie barfuß durch die Stadt lief. »Lasst uns hier verschwinden«, bat sie mit einem bangen Blick zu den Fenstern, die zur Straße hinausgingen. »Ehe uns jemand sieht.«
»Nur, wenn du mir erklärst, was du in Gottes Namen da gerade getan hast!«, hakte Wilhelm nach und fasste ihre Hand.
Sophie hielt inne und hob den Kopf. Es schmeichelte sie, dass sich Wilhelm um sie sorgte, aber gleichzeitig verspürte sie einen leichten Stich, dass er ihr nicht zutraute, ihre Kräfte richtig einzuschätzen. Als sei sie ein dummes Kind, das seinen Launen folgte. »Gleich«, sagte sie daher nur. »Nicht hier.«
Sie sah, wie Wilhelm und Paul einen kurzen Blick tauschten, und für einen Moment befürchtete sie, sie würden sich weigern, doch dann nickte Wilhelm knapp.
»Gehen wir zum Turm«, sagte er. »Vielleicht schaffen wir es dann noch pünktlich zu Savigny.«
Erst, als sie den Forsthof hinter sich gelassen hatten und der Pavillon vor ihnen auftauchte, bemerkte Sophie, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Dass ihre Mutter sie bemerkt haben könnte, war
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