Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Helenes Tod.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Wilhelm.
»Weil er mir aus dem Weg geht. Er besucht uns nicht, obwohl er es zugesagt hat, er redet nicht mit mir, obwohl wir uns über den Weg laufen, und tut fast so, als ob er mich nicht kennen würde.«
»Durchaus nachvollziehbar«, murmelte Paul, leise zwar, doch laut genug, dass Sophie es gut verstehen konnte. Obwohl es ihr einen Stich versetzte, zwang sich Sophie, Paul zu ignorieren.
»Ich brauche deine Hilfe«, bat sie Wilhelm.
»Du willst, dass ich mit Julius spreche?«
Sophie meinte in seiner Stimme Enttäuschung mitschwingen zu hören, aber sie konnte sich das ebenso eingebildet haben. »Richtig.« Ein flüchtiges Lächeln umzuckte ihre Mundwinkel, ehe sie zaghaft eine Hand auf seine legte. »Bitte.«
Wilhelm wechselte einen Blick mit Paul, nickte dann langsam. »Ich gehe nach der Vorlesung zu ihm. Was soll ich ihm ausrichten?«
»Dass ich ihn dringend sprechen muss.« Sophie überlegte kurz, schob noch hinterher: »Er soll mich besuchen. Wer weiß, wie lange Mutter mich noch wegsperrt.«
»Wenn sie dich beim Hochklettern erwischt, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag«, bemerkte Paul trocken. »Wir sollten jetzt gehen. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch pünktlich zur Vorlesung.«
Wilhelm nickte. Sophie spürte seine Hand, die ihre zögerlich drückte, ehe er sie rasch zurückzog. »Kommst du alleine zurück?«
»Ich klettere über den Schuppen. Es ist noch früh, Mutter schläft häufig bis zum Mittag. Und Großmutter wird mich nicht hören.« Sophie zwinkerte, aber es wirkte nur halb so unbeschwert, wie es gedacht war. Paul hatte durchaus recht, wenn man sie erwischte, würde es Ärger geben, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. »Besuchst du mich, wenn etwas schiefgeht?«
»In jedem noch so finsteren Kerker, edle Prinzessin.« Endlich huschte nun auch über Wilhelms Gesicht ein Lächeln. »Pass auf dich auf.«
»Immer.« Sophie erwiderte das Lächeln und nahm Wilhelms dargebotene Hand, um sich helfen zu lassen, den schmalen Pfad über die Mauer wieder hinabzusteigen. Nicht, dass sie Hilfe gebraucht hätte, aber sie genoss seine Berührung. Am Tor des Forsthofs trennten sie sich, und Sophie machte sich mit klopfendem Herz auf den Weg nach Hause. Hoffentlich nahm Julius ihre Bitte ernst.
*
Hans sprach nie mehr als das Nötigste, daher fiel es niemandem auf, wenn er schwieg. Das Schweigen half ihm, seine Gedanken bei sich zu behalten – Gedanken, die ihm wie die Schlüssel zu einem großen, düsteren Geheimnis erschienen. Nur konnte er ihn nicht fassen, denn jedes Mal, wenn er meinte zu verstehen, schoben sich Nebel vor seinen Blick und ließen ihn verloren zurück.
Seine Hand zitterte, als er den Lappen aus dem Eimer hob und auswrang, ehe er damit fortfuhr, die Tische der Wirtschaft abzuwischen. Das Wasser war kalt geworden, aber das bemerkte er kaum. Wie das mechanische Spielzeug, das ein Gast einmal als Bezahlung dagelassen hatte, schob er das Tuch in gleichförmigen Kreisen über die vernarbte Tischplatte, während die Bilder und Stimmen wieder und wieder vor seinem Geist vorbeizogen. Helenes Lachen, das Funkeln der Sonne auf ihrem Haar. Doktor Wittgen, der das Haus verließ. Der Student, sein verflucht schönes Gesicht, das überlegene Grinsen, mit dem er Hans bedachte. Die Magd, die ihn fortjagte, die die Blumen wegtrat, die mit Fuchs sprach. Fuchs, der sich an der Hausecke herumdrückte und den Studenten beobachtete. Studenten. Helene. Der schöne Student. Helene, die ausgelassen lachte, den Kopf zurückwarf, dass die Zähne weiß aufblitzten. Der Student, die Magd. Fuchs. Fuchs und die Magd. Helene. Seine Helene. Die schöne Helene. Student. Fuchs.
Mit einem erstickten Keuchen warf Hans den Kopf zurück, rang nach Luft. Seine Hand umklammerte den Lappen, drückte das schmutzige Wasser auf die Tischplatte. Er sah es, aber er verstand es nicht. Er verstand es einfach nicht!
»Hans?« Die tiefe Stimme seines Vaters drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Besorgnis schwang in ihr mit, ein ungewohnter Zug. »Was ist mit dir?«
Hans blickte auf, schüttelte den Kopf. »Nichts«, formten seine Lippen stumm, während er hastig den Kopf senkte und den Lappen in den Eimer tauchte. Es war nichts, nichts, was er seinem Vater erklären konnte. Er hatte schon einmal versucht, mit seinem Vater zu reden, ihn zu fragen, was er tun könnte, damit der Student aufhörte, Helene zu besuchen. Sein Vater hatte ihn angestarrt, als habe er ihn nach der
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