Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
durfte trotz aller Euphorie seine eigentlichen Aufgaben nicht aus den Augen verlieren. Wenn Hirschner alleine nicht zurecht kam, musste er ihm helfen.
Behutsam legte er das Bündel auf der Treppe ab, knurrte ein warnendes »Nicht anfassen!« in die Richtung der Magd und drängte sich an ihr vorbei ins Behandlungszimmer.
Die Luft war schwer, wie immer, da Doktor Hirschner sich nach wie vor weigerte, den Raum zu lüften, und es hing ein charakteristischer Geruch in der Luft, den Julius im zweiten Moment erkannte. Frisches Blut.
Rasch stellte er die Tasche ab und schritt zu dem alten Arzt und seinem Patienten hinüber, der zusammengesunken auf einem Stuhl hockte. Der Mann wäre vermutlich kräftig zu nennen, wenn er mehr zu beißen bekäme, aber seine sehnigen Züge verrieten ein entbehrungsreiches Leben. Niemand, an dem ein Arzt Geld verdiente.
»Es war der Wolf«, brummte Doktor Hirschner die Erklärung, ehe Julius nachfragen konnte. Der Alte rückte auf seinem Hocker ein Stück zurück und streckte mit einem Ächzen den Rücken durch. »Hat den armen Adam ordentlich erwischt. Komm, halt nicht Maulaffen feil, hol mir das Maß und etwas zu schreiben.«
»Was haben Sie vor?«, fragte Julius, ohne sich zu rühren. Sein Blick fiel auf den Arm des Mannes, den Doktor Hirschner gerade behandelte. Das Blut und der Schmutz waren abgewaschen, sodass Julius mit einem Blick die tiefe Bisswunde erkannte. Es musste ein großes Tier gewesen sein und für einen Moment stand ihm das Bild eines schwarzen Wolfs vor Augen, der den armen Tropf anfiel, doch er verdrängte den Gedanken energisch. Fing er etwa auch an, diesen abergläubischen Unsinn zu übernehmen?
»Ausmessen«, schnarrte der Alte und fuhr mit einem Tuch über die Wunde, sodass der Verletzte zischend einatmete. »Dein Vater hat mich angewiesen, alles genauestens zu dokumentieren, was mit dem Wolf zu tun hat. Man hofft wohl, dem vermaledeiten Untier auf diese Weise habhaft zu werden.«
»Wenn Sie mich fragen, kann man allein durch Vermessen keinerlei Rückschlüsse ziehen. Ihnen fehlen Vergleichswerte.« Julius trat neben den Verletzten und zog sich einen Stuhl heran. »Weißt du sicher, dass es ein Wolf war?«, wandte er sich an den Mann.
Adam nickte zaghaft. Was immer ihm widerfahren war, es schien ihn nachhaltig verstört zu haben. »Es war groß … ich habe es im Nebel erst gesehen, als es schon an mir dran war«, flüsterte er. »Ich war zum Holzsammeln am Waldrand, als es kam. Ich weiß nur noch seine Augen, die haben geglüht, als reichten sie geradewegs zur Hölle. Und es hat geknurrt, als es an mir gerissen hat, dass ich fürchtete, es würde mir jeden Augenblick an die Kehle gehen.«
»Wie konntest du entkommen?«
Die Lippen des Holzsammlers zuckten. »Ich habe einen Stock zu fassen bekommen, damit habe ich auf das Biest eingeschlagen. Immer wieder. Und dann hat es plötzlich gejault und mich losgelassen, und ich bin gerannt, so schnell ich konnte.«
Doktor Hirschners dürre Finger fassten Julius’ Arm. »Hol jetzt das Messgerät, Junge!«, raunzte er ungehalten. »Das habe ich alles schon gefragt!«
»Dann sollten Sie Ihre Theorie vom bösen Wolf überdenken«, gab Julius barsch zurück. »Das kann alles gewesen sein.«
» Alles reißt nicht solche Wunden.« Der Alte deutete auf den Biss. »Erzähl mir nicht, ich erkenne keinen Wolfsbiss, wenn ich ihn sehe!«
Dann haben Sie wohl noch nicht viele zu Gesicht bekommen, dachte Julius, sprach es aber nicht aus. Ein Schaudern packte ihn, als er mit den Augen grob den Biss ausmaß. Wenn er sich nicht irrte, war das Tier, das diese Wunde gerissen hatte, um einiges größer als ein gewöhnlicher Wolf. Und es lief irgendwo dort draußen in den Wäldern herum. Nein, nicht nur in den Wäldern, verbesserte er sich. In unmittelbarer Nähe der Stadt.
»Berte kann Ihnen zur Hand gehen.« Julius erhob sich hastig und packte auf dem Weg zur Tür seine Tasche. Er winkte der Magd heran, die mit bleicher Miene neben dem Eingang gelauscht hatte. »Du kannst doch sicher ein Maß halten, oder?«
»Was denkst du dir?«, hörte er Doktor Hirschner hinter sich zetern. »Wo willst du hin?«
»Ich habe etwas zu erledigen.« Julius fasste die Klinke und drehte sich in der Tür noch einmal um, nickte dem Alten einen höflichen Abschiedsgruß zu. »Waschen Sie die Wunde gut aus. Kamillensud, und nehmen Sie ruhig etwas von dem Brand. Bisswunden sind gefährlich.«
Die Antwort hörte er nicht mehr, da er die Tür hinter sich
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