Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Arrest.« Lotte lächelte müde. Sie wich seinem Blick aus. »Dein Vater fordert von mir, dass ich ihr gegenüber härter durchgreife. Er war früher schon nicht angetan, dass Sophie ein wenig angemessenes Verhalten an den Tag legt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Julius. So anstrengend seine Base auch sein konnte, jetzt empfand er Mitleid für das quirlige Mädchen, für das das Eingesperrtsein eine Qual bedeuten musste. »Und was kann ich dabei tun?«
»Du kannst mir eine Bürde abnehmen, indem du ein Auge auf sie hast.« Lotte sah ihn immer noch nicht an, sondern war ans Fenster getreten und schaute hinaus, eine Hand am Sturz abgestützt. »Es ist mir gleichgültig, was mein Bruder dazu sagt. Nein, es muss mir gleichgültig sein, wenn ich auch noch einen Funken von dem bewahren will, für das mein Gatte eingetreten ist.« Sie schwieg kurz, aber Julius sah, wie sie schlucken musste. »Ich will sie nicht länger einsperren, doch ich will auch nicht, dass sie sich in Gefahr bringt mit diesen … Nachforschungen.«
»Und Sie meinen, ich sei das ideale Kindermädchen?« Julius blickte entgeistert.
»Sie ist kein Kind mehr. Aber ja, du bist der Einzige, der mir hierbei helfen kann. Sie hat leider keine Brüder. Übernimm du diese Rolle und pass auf sie auf. Bis diese elende Geschichte vom Tisch ist.«
»Es ist ziemlich viel, was Sie da von mir erwarten.«
Lotte schnaubte leise. »Oh ja … Ich kenne meine Tochter. Und ich weiß, dass es nicht einfach ist, gegen ihren Sturkopf anzukommen.« Sie drehte sich wieder zu ihm um. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, müde zwar, aber es lag nicht mehr so viel Resignation darin wie zuvor. »Dein Vater wird es nicht mögen. Ich hatte erwartet, dass das ein Grund sei zuzustimmen.«
»Ich bin nicht revanchistisch«, stellte Julius klar. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die Aussicht, in den kommenden Tagen Sophie und ihre wirren Theorien ständig um sich zu haben, trug nicht gerade dazu bei, dass sich seine Stimmung hob, aber auf der anderen Seite war das Angebot seiner Tante verlockend. Sie kannte in Marburg alles, was Rang und Namen hatte, und könnte vielleicht in der festgefahrenen Situation mit den Professoren verhandeln. Vor allem jetzt, da Fichtner ihm offen drohte, brauchte er Rückhalt in der Stadt – und jemanden, der angesehen, beliebt und bereit war, sich für ihn einzusetzen.
»Was meinst du?« Lotte trat an ihm vorbei zum Regal, ihre Finger strichen flüchtig über die staubigen Buchrücken, ehe sie die grauen Flocken sanft fortblies. »Hilfst du mir?«
»Ich mache es.« Julius’ Stimme klang in seinen eigenen Ohren steif. Himmel, worauf ließ er sich ein? »Sophie soll am besten zu Doktor Hirschner kommen, dann kann ich ihr mitteilen, was ich herausgefunden habe.«
»Das kannst du ihr gleich hier erzählen«, lächelte Lotte und fasste seine Hand. Ihre Finger waren erstaunlich fest. »Sie ist oben. Hugo hat sie vorhin aufgegriffen, als sie versucht hat, über den Schuppen durchs Fenster hineinzuklettern. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.«
Es war Jahre her, dass er das letzte Mal diese enge Stiege hinaufgegangen war. Dennoch setzte er wie von selbst den Fuß über die beiden knarrenden Stellen, als sei er gestern das letzte Mal hier hochgeschlichen. Sophie war damals noch zu klein, um als Spielgefährtin infrage zu kommen, aber Lisbeth war ihm wie eine Schwester, wann immer er bei den Dierlingers zu Besuch kam. Seltsam, dass er noch kein einziges Mal auf die Idee gekommen war, nach ihr zu fragen. Nein, nicht seltsam, korrigierte er sich in Gedanken, während er die letzten Stufen nahm. Er hatte Lisbeth seit Jahren nicht gesehen, und eigentlich wollte er das auch nicht. Ein Wiedersehen barg die Gefahr der Enttäuschung, wenn die Vorstellung, über Jahre im Herzen getragen und genährt, von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Zumindest darin war er sich sicher, dass er Lisbeth lieber als die Freundin und Gefährtin in Erinnerung behielt, als sie jetzt neu kennenzulernen und festzustellen, dass ihm die Frau von heute fremd blieb. Die Begegnung mit Sophie hatte ihm bereits vor Augen geführt, welche Veränderungen die vergangenen Jahre mit sich bringen konnten, und er verdrängte die Vorstellung lieber, dass aus der lebenslustigen, herzlichen Lisbeth ein braves Hausmütterchen geworden war, das seinen Gatten anhimmelte und an jedem Rockzipfel zwei Kinder hängen hatte.
Zumindest davon war Sophie weit entfernt, dachte er mit einem
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