Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
verschlossener Miene. Wilhelm hielt die Luft an. Das Schweigen seines Bruders war gefährlicher als jeder Tadel, und Wilhelm konnte ihn verstehen. Es war ein Glücksfall, der es ihnen ermöglicht hatte, dass beide am gleichen Ort ein Studium aufnehmen konnten. Ein weiterer Glücksfall hatte sie in Gestalt von Friedrich Carl von Savigny erreicht, der ihnen die Welt der Rechtswissenschaft jenseits der Aktendeckel eröffnete, vor allem für Jakob, der inzwischen zu Savignys wichtigstem Schüler geworden war. Sie sollten die Freundschaft, die der junge Dozent ihnen entgegenbrachte, nicht leichtfertig verspielen.
»Paul, bist du so gut, Doktor Laumann Bescheid zu geben, dass Wilhelm zu sich gekommen ist?«, bat Jakob ernst. »Wenn er Zeit erübrigen könnte, wäre es gut, wenn er noch einmal vorbei käme.«
»Mir fehlt nichts«, murmelte Wilhelm und wollte sich aufrichten, aber Jakob schob ihn mit sanfter Gewalt zurück in die Kissen.
»Nichts da, du bleibst liegen. Du bist am ganzen Körper grün und blau. Sei froh, dass dir der Laumann etwas gegen die Schmerzen eingeflößt hat, sonst könntest du wahrscheinlich nicht einmal gerade liegen.« An Paul gewandt wiederholte Jakob seine Aufforderung. »Geh bitte und frag den Laumann.«
Paul grinste aufmunternd in Wilhelms Richtung und erhob sich. Den Mantel über die Schultern geworfen, verschwand er ohne ein weiteres Wort.
Die Stille im Raum schien erdrückend, nachdem die Schritte auf der Treppe verklungen waren. Von draußen drang das Schreien der Krähen, die sich in der Dämmerung zu Hunderten auf den Hausdächern sammelten, ein unheilvolles, morbides Geräusch.
»Du hast Glück gehabt«, durchbrach Jakob schließlich das Schweigen. Er war ans Fenster getreten, eine Hand an den Balken gelegt. »Dieser Bursche ist gemeingefährlich. Er wollte dich totschlagen wie einen Hund.«
»Ich weiß.« Wilhelm schluckte. Es schmerzte im Hals, als atme er rostige Nägel. »Was ist … geschehen?«
»Ich habe ihm einen Stein an den Kopf geworfen«, erklärte Jakob schlicht. »Daraufhin hat er von dir abgelassen und ist geflohen. Nachdem er mich vorher noch kräftig beschimpft hat. Was hast du mit dem Kerl zu tun?«, fragte er unvermittelt und drehte sich wieder um. Sein Blick verriet, dass er sich nicht mit Ausflüchten zufriedengeben würde.
»Wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen«, seufzte Wilhelm und lehnte matt den Kopf zurück auf das Kissen. »Hans hat irgendetwas mit Helene zu tun. Dem toten Mädchen aus der Lahn«, fügte er erklärend hinzu, als Jakob eine Braue hob. »Ich habe ihn gesehen, wie er beim Haus des alten Hirschner herumgelungerte. Als ich ihn ansprach, wollte er abhauen. Ich bin ihm gefolgt.«
»Es ist wegen dieses Mädchens, dieser Dierlinger, oder?« Jakobs Blick entließ ihn noch nicht, im Gegenteil. Er schien sich in ihn zu bohren, als wollte er sein Innerstes nach außen kehren.
»Ja, aber nicht so, wie du meinst.« Wilhelm lächelte schwach. Warum fiel es ihm nur so schwer, einen klaren Gedanken zu fassen? Sein Geist schweifte ab, drohte sich immer wieder zu verlieren zwischen Traum und Wirklichkeit. Sophie … Sophie und Hans … Hans mit dem Prügel … »Wir müssen sie warnen!«, fuhr er hoch. Fahrig versuchte er, die Decke von sich herunterzuschieben. »Hans … ist wahnsinnig, er wird sie … «
»Paul kümmert sich darum.« Jakob stand mit einem Schritt neben dem Bett und fasste Wilhelms Schulter. Sacht schob er ihn zurück und ließ er sich neben ihm nieder. »Mach dir keine Sorgen. Doktor Laumann kommt nachher.« Er legte die Hand auf Wilhelms Stirn, eine vertraute, beruhigender Geste, die ihre Wirkung nicht verfehlte. »Ruh dich aus. Wir haben später noch Zeit.«
Wilhelm wollte nicken, doch er schaffte es nicht länger, die Augen offen zu halten. Traumlose Schwärze umfing ihn.
*
Es dunkelte bereits, als sich Julius auf den Weg zu den Grimms machte. Wahrscheinlich warteten sie schon seit Stunden auf ihn. Gegen Mittag war Paul Wiegand bei ihm aufgetaucht, um ihm mitzuteilen, dass Wilhelm wieder zu sich gekommen war. Julius hatte den jungen Mann mit ein paar Beschwichtigungen rausgeworfen und versichert, dass er so bald wie möglich käme. Das ›bald‹ hing jedoch von ein paar verlausten Ratten ab, und die hatten sich mehr Zeit gelassen, als er gedacht hatte. Das Ergebnis hatte ihn nicht überrascht.
Der Regen hatte nachgelassen, aber er hatte die Straßen in ein Meer aus Schlamm und Pfützen verwandelt, das sich im
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