Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
doch das Risiko ging sie ein. Sie durfte sich nur nicht erwischen lassen.
Der Schreibtisch stand akkurat aufgeräumt. Seine Ordnung pflegte der Doktor pedantisch und hasste es, wenn man sich nicht daran hielt. Greta holte die Schublade hervor und drückte leicht auf das hintere Ende des Bodens. Die vordere Kante glitt nach oben, gerade so weit, dass sie einen Federkiel darunter schieben und den Boden vorsichtig hochhebeln konnte.
Die Ringe waren noch da, ebenso der Beutel mit den Münzen, den sie hastig in ihrem Bündel verschwinden ließ. Einen Moment lang rang sie mit sich, auch den Schmuck einzustecken, entschied sich jedoch dagegen. Den Verlust von Geld konnten wohlhabende Menschen verschmerzen, Erinnerungen verlieren dagegen nicht. Und wenn sie eines nicht gebrauchen konnte, dann war das ein hohes Tier wie Wittgen, das sie über die Landesgrenzen hinaus verfolgte.
Sie schloss die Schublade wieder, bedacht, keine zu offensichtlichen Spuren zu hinterlassen. Je später der Doktor es bemerkte, desto besser. Rasch schulterte sie ihr Bündel und verließ das Arbeitszimmer. An der Treppe lauschte sie noch einmal, wandte sich dann zur Haustür. Eine Fessel schien von ihr abzufallen, als sie hinaus auf die Straße trat und in die Gasse eilte, die den Hang hinab zum Stadttor führte. Sie frohlockte innerlich bei dem Gedanken daran, die Wittgens und ihr kaltes Haus endgültig hinter sich zu lassen. Mit dem Geld konnte sie anderswo neu anfangen, sich vielleicht sogar ein ehrbares Auskommen leisten. Es würde ein leichteres Leben werden, wenn …
Sie fuhr zusammen, als ihr jemand in den Weg trat. Instinktiv machte sie einen Schritt zurück, stieß dann einen erleichterten Laut aus. »Hannes! Herr im Himmel, hast du mich erschreckt!«
»Was tust du hier?« Misstrauen schwang in seiner Stimme mit, als ahnte er bereits die Antwort. Vermutlich tat er das auch. Sie konnte nichts vor ihm verbergen, er durchschaute sie, ehe sie überhaupt wusste, dass sie lügen würde.
»Ich gehe«, gab sie daher zu, ohne sich in Ausflüchten zu versuchen. Das Kinn ein wenig vorgeschoben, blickte sie zu ihm auf. »Ich halte es nicht mehr aus mit diesem Weib. Mach, was du willst, aber ich verschwinde von hier.«
Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber seine Hand schnellte vor und packte ihren Arm, ehe sie sich entziehen konnte.
»Au! Du tust mir weh!«, fauchte sie und versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber er hielt sie fest.
»Ich dachte, wir hätten darüber gesprochen«, zischte er nah vor ihrem Gesicht, sodass sie den Gestank nach billigem Wein in seinem Atem roch. »Du bleibst, bis wir hier fertig sind.«
»Lass mich los!« Erneut riss sie an seinem Griff, und dieses Mal ließ er sie tatsächlich gewähren. Mit verschränkten Armen baute er sich vor ihr auf, breit genug in der engen Gasse, dass sie nicht einfach an ihm vorbeihuschen konnte.
»Ich will nicht mehr!« Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Verdammt, sie sollte nicht vor ihm heulen. »Du hast keine Ahnung, wie es ist, mit dieser Ziege in einem Haushalt zu leben! Mich wundert es überhaupt nicht, dass die kleine Helene sie nicht leiden konnte! Der Doktor muss blind und taub sein, wenn er …
»Halt den Mund!«
Sie zuckte zusammen, verstummte augenblicklich, als er sie so barsch anfuhr, und sie spürte, wie ihre Wut und ihre Entschlossenheit wie ein Kartenhäuschen in sich zusammenfielen. Dafür kamen die Tränen, die jetzt mit aller Macht hervorbrachen. Aufschluchzend senkte sie den Kopf, presste die Lider aufeinander, als könnte das irgendetwas nutzen. Er würde sie nicht gehen lassen. Er ließ niemals zu, dass sie sich ihm widersetzte. Es war naiv gewesen zu glauben, dass sie einfach fortlaufen könnte. Wahrscheinlich hatte er schon davon gewusst, ehe sie das Haus verlassen hatte. Er wusste über alles Bescheid, was sie tat, und deshalb war er auch hier. Sie konnte nicht fort.
»Du bist zu ungeduldig«, hörte sie ihn sagen und zwang sich, nicht zurückzuweichen, als er die Hand auf ihre Schulter legte. »Geh der Wittgen aus dem Weg, wenn du mit ihr nicht zurecht kommst. Rede nur das Nötigste und gib ihr keinen Anlass, dich zu schelten. Sei unsichtbar, Greta«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, legte einen Finger unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Es ist nicht mehr lange. Wir können bald fort von hier. Aber so lange musst du es noch aushalten.«
Greta schluckte die Tränen weg, nickte in seinem Griff. Es war keine
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