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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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sahen die Dinge ganz anders aus. Sie hatte Geld, hatte Beziehungen, hatte
    einen besorgten Ehemann. Nach ihr hätte man gesucht. Und man
    hat ja auch tatsächlich nach ihr gesucht. Auch nicht sehr schnell, außer wenn etwas passierte, das Verdacht erwecken konnte. Es
    konnte eine Sache von Monaten sein, bevor man irgendwas entdeck‐
    te. Vielleicht hätte man den See durchsucht, aber wenn die Verfol-gung ihrer Spur die Vermutung nahelegte, daß sie den See wirklich
    verlassen und wirklich wieder hinuntergefahren sei, sogar bis San Bernardino und von dort noch mit dem Zug nach Osten, wäre der See wahrscheinlich nie untersucht worden. Und selbst wenn man
    die Leiche gefunden hätte, bestand eine gute Chance, daß man sie nicht mehr identifizieren konnte. Bill Chess wurde wegen Mordes an seiner Frau festgenommen. Nach allem, was ich weiß, wäre er 256
    vielleicht sogar überführt worden, und damit wäre der Fall, soweit
    er die Tote im See betrifft, erledigt gewesen. Crystal Kingsley hätte
    weiter als vermißt gegolten, ihr Verschwinden als ein unlösbares Rätsel. Irgendwann hätte man dann wahrscheinlich angenommen,
    daß ihr etwas zugestoßen sei und daß sie nicht länger am Leben wäre. Aber niemand hätte wissen können, wo und wann und wie es
    passiert ist. Wenn es nicht wegen Lavery wäre, säßen wir wahrscheinlich nicht hier, um darüber zu sprechen. Sein Fall ist der Schlüssel zur ganzen Angelegenheit. Er war an dem Abend im Prescott Hotel in San Bernardino, an dem Crystal Kingsley angeblich den See verlassen hatte. Er traf dort eine Frau, die Crystal Kingsleys
    Auto hatte und die Crystal Kingsleys Kleider trug.
    Und natürlich wußte er, wer es war. Aber er muß nicht unbedingt
    gewußt haben, daß etwas faul war. Er muß nicht gewußt haben, daß
    das Crystal Kingsleys Kleider waren oder daß die Frau Crystal
    Kingsleys Wagen in der Hotelgarage abgestellt hatte. Er brauchte nur gewußt zu haben, daß er Muriel Chess getroffen hatte. Für den
    Rest sorgte Muriel.«
    Ich machte eine Pause und wartete, daß jemand etwas sagte. Aber
    niemand sagte etwas. Patton saß bewegungslos in seinem Sessel,
    seine groben unbehaarten Hände bequem über dem Bauch gefaltet.
    Kingsley hatte seinen Kopf zurückgelehnt, die Augen halb geschlos‐
    sen. Auch er rührte sich nicht. Degarmo lehnte an der Wand beim Kamin, angespannt, mit weißem Gesicht und kalt – ein großer, harter, ernster Mann, dessen Gedanken tief verborgen waren.
    Ich sprach weiter.
    »Wenn Muriel Chess Crystal Kingsley gespielt hat, hat sie sie auch
    ermordet. Das ist die Grundvoraussetzung. Also gut, schauen wir sie uns näher an. Wir wissen, wer sie war und welche Art von Frau
    sie war. Sie hatte schon gemordet, bevor sie Bill Chess getroffen und
    geheiratet hatte. Sie war Doktor Almores Sprechstundenhilfe und
    Freundin gewesen, und sie hatte Dr. Almores Frau auf eine so rei-257
    zende Art umgebracht, daß Almore den Mord für sie vertuschen
    mußte. Und sie war mit einem Mann von der Bay‐City‐Polizei ver‐
    heiratet gewesen, der auch dumm genug war, um beim Vertuschen
    mitzuhelfen. Sie kriegte die Männer so gut hin, daß sie wie dressiert
    durch brennende Reifen sprangen. Ich habe sie nicht lange genug gekannt, um zu wissen, warum das so war, aber ihre Erfolge beweisen das. Was sie mit Lavery fertigbrachte, beweist das. Nun gut, sie
    tötete Leute, die ihr in die Quere kamen, und Kingsleys Frau kam ihr auch in die Quere. Ich wollte eigentlich nicht darüber sprechen.
    Aber es spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr. Auch Crystal Kingsley
    konnte die Männer ein wenig springen lassen. Sie provozierte Bill Chess zu einem Sprung, und seine Frau war nicht die Frau, die das
    schluckte und bloß lächelte. Und ihr Leben hier oben stand ihr bis zum Hals – es mußte ihr bis zum Hals stehen –, sie wollte einfach weg. Aber dazu brauchte sie Geld. Sie hatte versucht, es sich von Almore zu verschaffen, aber das brachte Degarmo hier rauf, um
    nach ihr zu suchen. Das erschreckte sie doch ein bißchen. Degarmo
    gehört zu der Sorte, die unberechenbar ist. Sie hatte recht, sich vor ihm zu fürchten. Habe ich recht, Degarmo?«
    Degarmo bewegte einen Fuß auf dem Boden. »Die Sanduhr läuft
    gegen Sie, Mann«, sagte er grimmig. »Sprechen Sie Ihr kleines Stück
    zu Ende, solange es noch geht.«
    »Mildred mußte nicht unbedingt Crystal Kingsleys Wagen und
    Kleider und Wertgegenstände und was noch, alles haben, aber es half ihr. Das Geld muß ihr ein gutes

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