Die Tote in der Bibliotek
eine sehr hohe Summe, Mr. Jefferson», sagte Harper fast ehrfurchtsvoll.
«Heute ja.»
«Und die wollten Sie einem Mädchen überlassen, das sie erst wenige Wochen kannten?»
Zorn blitzte in den leuchtend blauen Augen auf.
«Wie oft muss ich es denn noch sagen? Ich habe keine Blutsverwandten, keine Nichten und Neffen, nicht einmal entfernte Vettern oder Kusinen! Ich hätte das Geld auch für einen guten Zweck stiften können, aber eine Einzelperson ist mir lieber!» Er lachte. «Aschenputtel wurde über Nacht Prinzessin! Die männliche Variante der guten Fee. Warum nicht? Es ist mein Geld. Ich habe es selbst verdient.»
«Haben Sie noch andere Verfügungen getroffen?», fragte Colonel Melchett.
«Edwards, mein Kammerdiener, erhält ein kleines Legat, der Rest geht zu gleichen Teilen an Mark und Addie.»
«Und dieser Rest – Sie entschuldigen –, handelt es sich da um einen großen Betrag?»
«Wahrscheinlich nicht. Genau lässt sich das schwer sagen, Kapitalanlagen schwanken ja ständig. Nach Abzug der Kosten für die Beerdigung und aller sonstigen Ausgaben werden wohl um die fünf- bis zehntausend Pfund übrig bleiben.»
«Aha.»
«Halten Sie mich bitte nicht für kleinlich. Bei der Heirat meiner Kinder habe ich, wie gesagt, mein Vermögen aufgeteilt. Für mich selbst habe ich nur eine ganz geringe Summe zurückbehalten. Aber nach – nach der Tragödie habe ich mich in die Arbeit gestürzt, um mich abzulenken. In meinem Haus in London habe ich eigens eine direkte Leitung vom Schlafzimmer in mein Büro legen lassen. Ich habe hart gearbeitet. Das hat mich vom Nachdenken abgehalten und mir das Gefühl gegeben, dass meine – meine Verstümmelung mich nicht niederzwingen kann. Ich habe mich ganz aufs Geschäft konzentriert» – seine Stimme wurde tiefer, und er schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu seinen Zuhörern – «und ironischerweise gedieh alles, was ich tat, prächtig! Die gewagtesten Spekulationen hatten Erfolg, riskante Manöver glückten, alles, was ich anfasste, verwandelte sich in Gold. Als wollte das Schicksal einen gerechten Ausgleich schaffen.»
Die Leidenslinien in seinem Gesicht schienen sich zu vertiefen. Doch er fasste sich wieder und lächelte sarkastisch.
«Sie sehen also, die Summe, die ich Ruby hinterlassen wollte, war unbestreitbar mein Eigentum, ich konnte damit tun und lassen, was ich wollte.»
«Ganz ohne Frage, mein Lieber», beeilte sich Melchett zu versichern, «das steht für uns völlig außer Zweifel.»
«Gut», sagte Conway Jefferson. «Und jetzt würde ich gern meinerseits einige Fragen stellen, wenn Sie gestatten. Ich möchte mehr über diese – diese schreckliche Sache hören. Bisher weiß ich nur, dass sie – dass die kleine Ruby erwürgt in einem Haus etwa zwanzig Meilen von hier entfernt aufgefunden wurde.»
«So ist es. In Gossington Hall.»
Jefferson runzelte die Brauen.
«Gossington? Aber das ist doch…»
«Colonel Bantrys Haus.»
«Bantry? Arthur Bantry? Aber den kenne ich ja! Ihn und seine Frau! Habe die beiden vor ein paar Jahren im Ausland kennen gelernt. Ich wusste gar nicht, dass sie hier in der Gegend wohnen. Das ist ja…»
Er brach ab. Superintendent Harper ergriff die Gelegenheit und sagte rasch: «Colonel Bantry hat letzten Dienstag hier im Hotel gespeist. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen?»
«Dienstag? Dienstag? Nein, da sind wir erst spät zurückgekommen. Wir waren in Harden Head und laben auf der Rückfahrt unterwegs gegessen.»
«Hat Ruby Keene die Bantrys nie erwähnt?», fragte Melchett.
Jefferson schüttelte den Kopf. «Nein. Kann mir nicht denken, dass sie sie gekannt hat. Bestimmt nicht. Sie hat nur mit Theaterleuten und dergleichen verkehrt.»
Er machte eine Pause und fragte dann unvermittelt: «Was sagt denn Bantry zu der Sache?»
«Er kann sich das alles überhaupt nicht erklären. Gestern Abend war er bei einer Versammlung der Konservativen Gesellschaft. Die Leiche ist heute früh entdeckt worden. Er sagt, er hat das Mädchen nie gesehen.»
Jefferson nickte. «Es ist wirklich absurd.»
Superintendent Harper räusperte sich und fragte: «Haben Sie irgendeine Vermutung, Sir, wer der Täter sein könnte?»
«Großer Gott, ich wollte, ich hätte eine!» Die Adern an Jeffersons Stirn schwollen an. «Es ist einfach unfassbar, unvorstellbar! Wenn es nicht wirklich passiert wäre, würde ich sagen, es kann einfach nicht sein!»
«Gab es nicht irgendeinen Freund – von früher –, einen Mann, der sich in Rubys
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