Die Tote ohne Namen
ihr ehemaliger Zahnarzt, der jetzt in Los Angeles lebte, ausweichend.
»Aber Sie haben sie noch?« fragte ich ihn am Diens tagnachmittag.
»In meiner Garage stehen eine Million Schachteln.«
»Eine Million sind es sicher nicht.«
»Aber eine ganze Menge.«
»Bitte. Wir reden von einer Frau, die wir nicht identifizieren können. Alle Menschen haben das Recht, mit ihrem Namen beerdigt zu werden.«
»Ich werde nachsehen.«
Minuten später telefonierte ich mit Marino. »Wir müssen's mit einer DNS-Analyse versuchen oder mit den Fotos. Vielleicht erkennt sie jemand darauf.«
»Ja. Und was genau hast du vor? Gault ein Foto zu zeigen und ihn zu fragen, ob die Frau, der er das angetan hat, aussieht wie seine Schwester?«
»Ich glaube, ihr Zahnarzt hat sie hintergangen. Das wäre nicht das erste Mal, daß so was passiert.«
»Wovon sprichst du?«
»Er hat Leistungen berechnet, die er nicht ausgeführt hat, um von der Versicherung mehr Geld zu kassieren.«
»Aber es wurde doch eine ganze Menge gemacht.«
»Aber er hat noch viel mehr in Rechnung stellen können. Glaub mir. Zum Beispiel doppelt so viele Blattgoldfüllungen. Das sind Tausende von Dollar. Er hat einfach behauptet, er hätte sie gemacht. Sie ist geistig behindert, lebt bei einem alten Onkel. Was können die ihm anhaben?«
»Ich hasse solche Arschlöcher.«
»Wenn ich seine Akten in die Hände bekäme, würde ich ihn anzeigen. Aber er wird sie nicht rausrücken. Wahrscheinlich existieren sie nicht mehr.«
»Du mußt morgen früh um acht als Geschworene antreten«, sagte Marino. »Rose hat mich angerufen.«
»Das heißt, daß ich hier sehr früh weg muß.«
»Fahr direkt zu dir nach Hause, und ich hol dich ab.«
»Ich werde direkt zum Gerichtsgebäude fahren.«
»Nein, das wirst du nicht. Du fährst nicht allein durch die Stadt.
»Wir wissen doch, daß Gault nicht mehr in Richmond ist. Er ist an dem Ort, wo er sich für gewöhnlich versteckt. Eine Wohnung oder ein Zimmer, wo er einen Computer hat.«
»Chief Tucker hat seine Sicherheitsanordnungen deine Person betreffend nicht zurückgezogen.«
»Er kann meine Person betreffend überhaupt nichts anordnen.«
»O doch, kann er. Aber er tut ja nicht mehr, als dir ein paar Polizisten zuzuteilen. Entweder akzeptierst du das, oder du versuchst, sie abzuhängen. Aber besser, du versuchst, dich damit abzufinden.«
Am nächsten Morgen rief ich das New Yorker Leichenschauhaus an und hinterließ Dr. Horowitz eine Nachricht, daß er mit der DNS-Analyse von Janes Blut beginnen möge. Dann holte mich Marino ab. Drei Polizeiwagen parkten vor meinem Haus, dazu Marinos Ford. Nachbarn schauten aus dem Fenster oder holten ihre Zeitung herein. Windsor Farms erwachte, Leute gingen zur Arbeit oder sahen zu, wie ich, begleitet von einer Polizeieskorte, davonfuhr. Frost überzog die Rasenflächen, und der Himmel war von fast makellosem Blau.
Im Gerichtsgebäude mußte ich wie immer erst durch die Sicherheitskontrolle. Der Beamte am Eingang verstand allerdings nicht ganz, warum ich gekommen war.
»Guten Morgen, Dr. Scarpetta«, sagte er und strahlte übers ganze Gesicht. »Was sagen Sie zu dem vielen Schnee? Da meint man doch, man lebt in einem Postkartenidyll. Und auch Ihnen, Captain, einen wunderschönen guten Morgen, Sir«, begrüßte er Marino.
Ich trat durch die Sicherheitsschleuse, und eine Frau tastete mich ab, während der Schneeliebhaber meine Handtasche durchsuchte. Marino und ich gingen die Treppe hinunter und betraten einen mit einem orangefarbenen Teppich ausgelegten Raum, in dem reihenweise orangefarbene Stühle standen. Kaum einer davon war besetzt. Wir setzten uns nach hinten und beobachteten die Leute, die vor sich hin dösten, husteten oder sich die Nase putzten. Ein Mann in einer Lederjacke, unter der das Hemd heraushing, blätterte in Zeitschriften, während ein Mann im Kaschmirpullover einen Roman las. Im Zimmer nebenan wurde Staub gesaugt.
In diesem trostlosen Raum war ich von drei uniformierten Polizisten umringt, inklusive Marino. Um zehn vor neun kam eine Gerichtsangestellte herein und stellte sich auf ein Podium, um uns Orientierungshilfe zu leisten.
»Zwei Dinge muß ich vorausschicken.« Sie sah mich an.
»Der Sheriff auf dem Video, das Sie jetzt gleich sehen werden, ist nicht mehr der Sheriff.«
»Weil er nicht mehr lebt«, flüsterte mir Marino ins Ohr.
»Und«, fuhr die Frau fort, »in dem Video wird behauptet, daß Ihr Honorar als Geschworener dreißig Dollar beträgt. Das
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