Die Tote ohne Namen
sein. Dann können wir eine DNS-Analyse machen.«
»Du kannst nicht hierbleiben«, wiederholte er.
»Natürlich kann ich das.«
»Ich sage, du kannst nicht hierbleiben.«
»Ich muß hierbleiben, Marino«, sagte ich störrisch. »Ich wohne hier.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das kommt nicht in Frage. Oder ich ziehe ein.«
Ich liebte Marino heiß und innig, aber der Gedanke, daß er sich hier breitmachte, war unerträglich. Ich sah vor mir, wie er sich an meinen Perserteppichen die Schuhe abputzte und feuchte Gläser auf Eibenholz und Mahagoni abstellte. Er würde sich neben den Kamin lümmeln, sich Catchen im Fernsehen ansehen und Budweiser aus der Dose trinken.
»Ich werde augenblicklich Benton anrufen«, fuhr er fort. »Er wird dir das gleiche sagen.« Er ging zum Telefon. »Marino, laß Benton aus dem Spiel.«
Er ging zum Kamin, setzte sich auf die Sandsteinplatte, vergrub das Gesicht in den Händen, und als er wieder aufblickte, sah er todmüde aus. »Du weißt, wie's mir gehen wird, wenn dir etwas zustößt?«
»Nicht sehr gut«, sagte ich und fühlte mich unbehaglich.
»Es wird mich umbringen. Das wird es, ich schwör's.«
»Werd nicht sentimental.«
»Ich weiß nicht, was das Wort bedeutet. Aber ich weiß, daß Gault zuerst mich um die Ecke bringen muß, verstehst du?« Er starrte mich an.
Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.
»Du weißt sehr gut, daß auch du umgebracht werden kannst. Wie Eddie, wie Susan, wie Jane, wie Jimmy Davila. Gault hat sich auf dich fixiert, verdammt noch mal. Und er ist einer der schlimmsten Killer in diesem Scheißjahrhundert.« Er hielt inne. »Hörst du mir zu?«
Ich sah ihm in die Augen. »Ja. Ich höre dir zu. Ich höre jedes Wort.«
»Auch um Lucys willen kannst du nicht hierbleiben. Sie darf dich hier auf keinen Fall besuchen. Und wenn dir was passiert, was um Himmels willen soll dann aus ihr werden?«
Ich schloß die Augen. Ich liebte mein Zuhause. Ich hatte so hart dafür gearbeitet. Ich hatte hart gearbeitet und versucht, eine gute Geschäftsfrau zu sein. Was Wesley vorausgesagt hatte, traf ein. Ich konnte mein Leben nur schützen, wenn ich meine Identität und meinen Besitz aufgab.
»Ich soll also irgendwo hinziehen und meine Ersparnisse ausgeben?« fragte ich. »Ich soll das alles aufgeben?« Ich machte eine Handbewegung durch das Zimmer. »Ich soll diesem Monster soviel Macht zugestehen?«
»Dein Auto kannst du auch nicht mehr fahren«, dachte er laut. »Du mußt einen Wagen fahren, den er nicht kennt. Du kannst meinen haben, wenn du willst.«
»Nein, danke«, sagte ich.
Marino blickte beleidigt drein. »Es kostet mich einiges, jemandem meinen Wagen anzubieten. Ich verleihe ihn normalerweise nie.«
»Das ist es nicht. Ich will mein Leben. Ich will, daß Lucy sicher ist. Ich will in meinem Haus wohnen und mit meinem Auto fahren.«
Er stand auf und reichte mir sein Taschentuch.
»Ich weine nicht«, sagte ich.
»Wirst du aber gleich.«
»Nein, werd ich nicht.«
»Willst du was trinken?«
»Scotch.«
»Ich glaub, ich genehmige mir einen kleinen Bourbon.«
»Du darfst nichts trinken. Du mußt noch fahren.«
»Nein«, sagte er und ging zur Bar. »Ich kampiere auf deiner Couch.«
Gegen Mitternacht holte ich ihm ein Kissen und eine Decke und machte ihm ein Bett. Er hätte in einem Gästezimmer schlafen können, aber er wollte unten bleiben vor dem auf niedrig gedrehten künstlichen Kaminfeuer.
Ich zog mich zurück und las, bis die Wörter vor meinen Augen verschwammen. Ich war dankbar, daß Marino da war, und konnte mich nicht erinnern, jemals solche Angst gehabt zu haben. Bislang hatte Gault immer bekommen, was er wollte. Bislang war ihm jedes noch so hinterhältige Verbrechen geglückt, das er hatte verüben wollen. Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, daß ich starb, würde ich ihm nicht entgehen, glaubte ich. Wenn er wollte, daß Lucy starb, würde auch das geschehen, glaubte ich.
Letzteres war es, wovor ich mich am meisten fürchtete. Ich hatte seine Opfer gesehen. Ich wußte, was er tat. Ich konnte jeden Knochensplitter und jedes Stück herausgeschnittener Haut auflisten. Ich blickte auf die schwarze Neunmillimeter-Pistole auf meinem Nachtisch, und fragte mich, was ich mich immer fragte. Würde ich rechtzeitig danach greifen? Würde ich mein Leben oder das eines anderen retten? Während ich mich in meinem Schlafzimmer und dem daneben gelegenen Büroraum umsah, wurde mir klar, daß Marino recht hatte. Ich konnte hier
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