Die Tote ohne Namen
mußte ich erst noch finden. Viele Wachmänner und die meisten Putztrupps arbeiteten nicht lange für mich.
Während ich auf diesen furchtlosen Mann namens Evans wartete, öffnete ich den Reißverschluß des schwarzen Sacks, der neu wirkte. Der Kopf der Leiche steckte in einer schwarzen Plastikmülltüte, die mit einem Schnürsenkel um seinen Hals gebunden war. Der Mann war mit einem blutgetränkten Schlafanzug bekleidet, trug ein dickes Goldarmband und eine Rolex. Aus der Brusttasche der Schlafanzugjacke ragte etwas hervor, das aussah wie ein kleiner rosaroter Briefumschlag. Ich trat einen Schritt zurück, meine Knie wurden weich.
Ich rannte zu den Türen, schlug sie zu und schob die schweren Riegel vor, während ich in meiner Handtasche nach meinem Revolver kramte. Lippenstift und Haarbürste fielen zu Boden. Ich dachte an den Umkleideraum, an Orte, wo man sich verstecken konnte, während ich mit zitternden Händen die Nummer von Marinos Piepser wählte. Je nachdem, wie warm er angezoge n war, konnte er sich sogar im Kühlraum verstecken, überlegte ich voller Panik und sah die vielen Bahren mit den schwarzen Leichensäcken vor mir. Ich lief zu der großen Stahltür und ließ das Vorhängeschloß zuschnappen, während ich darauf wartete, daß Marino mich zurückrief.
Fünf Minuten später klingelte das Telefon, gerade als Evans leise an die Tür des Autopsieraums klopfte.
»Einen Augenblick!« rief ich ihm zu. »Bleiben Sie da.« Ich nahm den Telefonhörer ab.
»Ja«, meldete sich Marino.
»Komm sofort her«, sagte ich und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten. Den Revolver ließ ich nicht einen Augenblick los.
»Was ist los?« Jetzt klang er beunruhigt. »Beeil dich!« sagte ich.
Ich legte auf und wählte den Polizeinotruf an. Dann sprach ich durch die geschlossene Tür mit Evans. »Die Polizei ist unterwegs«, sagte ich laut. »Die Polizei?« Er bekam es mit der Angst.
»Wir haben hier ein entsetzliches Problem.« Mein Herz hörte nicht auf zu rasen. »Gehen Sie rauf in das Besprechungszimmer, und warten Sie dort, haben Sie verstanden?«
»Ja, Ma'am. Bin schon unterwegs.«
Ich kletterte auf die an der Wand befestigte Resopalplatte und setzte mich so hin, daß ich alle Türen im Blick hatte und sofort zum Telefon greifen konnte. Ich hielt die Smith & Wesson.38 in der Hand und wünschte, ich hätte meine Browning oder Marinos Benelli. Ich betrachtete den schwarzen Sack auf der Bahre, als ob er sich jeden Augenblick bewegen würde.
Das Telefon klingelte, und ich zuckte zusammen. Ich langte nach dem Hörer.
»Leichenschauhaus.« Meine Stimme zitterte. Schweigen.
»Hallo?« fragte ich lauter. Niemand antwortete.
Ich legte auf, sprang von der Platte, Ärger stieg in mir auf, der sich augenblicklich in maßlose Wut verwandelte. Sie brachte meine Angst zum Verschwinden, so wie Sonne Nebel wegbrennt. Ich entriegelte die Tür zum Korridor und ging noch einmal in das Aufnahmebüro nebenan. Über dem Telefon klebten vier Streifen Tesafilm und abgerissene Papierecken, jemand hatte das Blatt mit der hausinternen Telefonliste weggerissen. Auf dieser Liste standen die Durchwahlnummern für die Leichenhalle und für mein Büro im zweiten Stock.
»Verdammt!« rief ich. »Verdammt, verdammt, verdammt!«
Es läutete in dem Moment an der Einfahrt, als ich mich fragte, was er sonst noch durchsucht oder mitgenommen hatte. Ich dachte an mein Büro oben und drückte auf einen Knopf in der Wand. Das große Tor schwang auf. Marino, in Uniform, stand mit zwei Polizisten und einem Detective auf der anderen Seite. Sie rannten an mir vorbei in den Autopsieraum, die Holster geöffnet. Ich folgte ihnen und legte meinen Revolver auf die Resopalplatte, weil ich nicht glaubte, daß ich ihn jetzt noch brauchte.
»Was zum Teufel ist hier los?« fragte Marino, während er ausdruckslos auf die Leiche in dem offenen Sack blickte.
Auch die anderen Männer betrachteten sie, entdeckten nichts Auffälliges. Dann sahen sie zu mir und auf den Revolver, den ich gerade weggelegt hatte.
»Dr. Scarpetta, worin besteht das Problem?« fragte der Detective, dessen Namen ich nicht kannte.
Ich erzählte ihnen die Geschichte von dem Bestattungsunternehmen, und sie hörten zu, ohne eine Miene zu verziehen.
»Und in der Tasche seiner Schlafanzugjacke steckt ein Umschlag. Welcher ermittelnde Beamte würde so etwas zulassen? Welche Abteilung der Polizei bearbeitet diesen Fall überhaupt? Es wird nirgendwo erwähnt«, sagte ich und wies sie darauf
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