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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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daß er eingeschlafen war. Eine Träne kullerte über meine Wange, als ich ihm die Decke bis zum Kinn zog und wieder hinaufging.

12
    Ich parkte um Viertel nach sieben hinter meinem Büro und blieb eine Weile im Wagen sitzen, starrte auf die Risse im Asphalt, den schmutzigen Verputz und den durchhängenden Maschendrahtzaun des Parkplatzes.
    Hinter mir befanden sich die Eisenbahngleise und die Brücke über die Schnellstraße, und daran schloß sich, halb hinter Bretterverschlägen, ein Stadtviertel mit einer extrem hohen Verbrechensrate an. Es gab dort weder Bäume noch Grünanlagen, kaum irgendwo ein Stückchen Rasen. Meine Berufung auf diese Stelle war nie mit dem Angebot einer schönen Aussicht verbunden gewesen, aber im Augenblick war mir das gleichgültig. Ich vermißte mein Büro und meine Mitarbeiter, und alles, worauf mein Blick fiel, wirkte tröstlich.
    Im Leichenschauhaus ging ich zuerst ins Aufnahmebüro, um mich über die Fälle zu informieren, die mich an diesem Tag erwarteten. Ein Selbstmord mußte untersucht werden, außerdem die Leiche einer 80jährigen Frau, die zu Hause an einem nicht behandelten Mammakarzinom gestorben war. Eine ganze Familie war tags zuvor bei einem Verkehrsunfall umgekommen, als ihr Auto von einem Zug überrollt wurde, und mir wurde schwer ums Herz, als ich die Namen las. Ich beschloß, mir die Fälle anzusehen, während ich auf meine Kollegen wartete, und sperrte den Kühlraum und die Türen auf, die in den Autopsieraum führten.
    Die drei Tische waren blank poliert, der Kachelboden glänzte. Ich warf einen Blick in das Regal mit den Unterlagen, auf Wagen mit ordentlich aufgereihten Instrumenten und Reagenzgläsern, auf Stahlregale mit Fotoapparaten und Filmmaterial. Im Umkleideraum musterte ich Laken und frisch gestärkte Laborkittel, während ich einen Chirurgenanzug und eine Plastikschürze anzog, dann ging ich in den Korridor zu einem Wagen mit Operationsmasken, Überschuhen und Gesichtsschilden.
    Ich streifte Handschuhe über und fuhr mit meiner Inspektion fort, während ich in den Kühlraum ging, um den ersten Fall herauszuholen. Die Leichen lagen, eingeschlossen in schwarze Säcke, auf Roll-Bahren, die Temperatur betrug vorschriftsgemäß ein Grad, und die Luft war angemessen deodoriert, angesichts der Tatsache, daß wir ein volles Haus hatten. Anhand der Schildchen, die an den Zehen angebracht waren, suchte ich die richtige Leiche und rollte die Bahre hinaus.
    Eine Stunde lang würde ich noch allein sein, und ich genoß die Stille. Ich mußte nicht einmal die Tür des Autopsieraums abschließen, weil noch keine Gerichtsmediziner den Flur bevölkerten und den Aufzug benutzten. Ich fand keine Unterlagen zu dem Selbstmord und ging noch einmal ins Büro. Sie waren im falschen Fach abgelegt worden. Das eingetragene Datum stimmte um zwei Tage nicht, und die Formblätter waren nicht vollständig ausgefüllt. Die einzigen Informationen, die man daraus entnehmen konnte, waren der Name des Verstorbenen und daß die Leiche letzte Nacht um drei Uhr eingeliefert worden war, und zwar von Sauls, was ungewöhnlich war.
    Wir hatten Verträge mit drei Bestattungsunternehmern, die uns die Leichen brachten und sie wieder abholten. Diese drei Institute waren 24 Stunden täglich in Bereitschaft, und jeder für uns bestimmte Fall in dieser Gegend Virginias war eigentlich ihre Angelegenheit. Ich verstand nicht, warum dieser Selbstmord von Sauls eingeliefert worden war, mit denen wir keinen Vertrag hatten, und warum der Fahrer nicht unterschrieben hatte. Ich ärgerte mich. Nur ein paar Tage war ich weggewesen, und schon funktionierte nichts mehr, wie es sollte. Ich ging zum Telefon und rief den Wachmann an, dessen Schicht erst in einer halben Stunde endete.
    »Hier spricht Dr. Scarpetta«, sagte ich, als er abnahm.
    »Ja, Ma'am.«
    »Mit wem bitte spreche ich?« »Evans.«
    »Mr. Evans, heute morgen um drei Uhr wurde ein mutmaßlicher Selbstmörder eingeliefert.«
    »Ja, Ma'am, ich habe den Wagen reingelassen.«
    »Wer hat ihn gebracht?«
    Er zögerte. »Hm, ich glaube, es war Sauls.«
    »Wir arbeiten nicht mit Sauls zusammen.«
    Er schwieg.
    »Kommen Sie bitte zu mir«, sagte ich zu ihm. Er zögerte wieder. »In die Leichenhalle?« »Ja.«
    Er war nicht begeistert, und ich spürte seinen starken Widerstand. Viele Angestellte, die in diesem Gebäude arbeiteten, mieden die Leichenhalle. Sie wollten nicht in ihre Nähe kommen, und den Wachmann, der es wagte, den Kopf in den Kühlraum zu stecken,

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