Die Tote ohne Namen
wurde es noch schlimmer.
»Okay«, sagte ich zu mir selbst. »Niemand ist hier. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.«
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und legte die 38er in Reichweite.
»Was passiert ist, gehört der Vergangenheit an«, fuhr ich fort. »Du mußt dich zusammenreißen. Du dekompensierst.«
Es war unglaublich, daß ich mit mir selber redete. Das paßte nicht zu mir, und ich machte mir Sorgen deswegen, während ich die Autopsieberichte des heutigen Tages diktierte. Die Herzen, Lebern und Lungen der beiden Toten waren normal gewesen. Ihre Arterien waren normal. Ihre Knochen, Gehirne und ihr Körperbau waren normal gewesen.
»Im normalen Bereich«, sagte ich in das Diktiergerät. »Im normalen Bereich«, sagte ich wieder und wieder.
Nur was ihnen angetan worden war, das war alles andere als normal gewesen, Gault war nicht normal, er bewegte sich in keinem normalen Bereich.
Um Viertel vor fünf rief ich im American-Express-Büro an. Glücklicherweise war Brent noch da.
»Sie sollten bald nach Hause fahren«, sagte ich. »Die Straßen sind eine Katastrophe.« »Ich habe einen Range Rover.«
»Die Leute in Richmond wissen nicht, wie man bei Schnee fährt«, sagte ich.
»Dr. Scarpetta, was kann ich für Sie tun?« fragte Brent, der jung und kompetent war und mir bei vielen Problemen in der Vergangenheit geholfen hatte.
»Können Sie die Abbuchungen für meine American- ExpressKarte überwachen?« fragte ich. »Können Sie das?« Er zögerte.
»Ich will über jede Abbuchung Bescheid wissen. Sobald eine getätigt wird. Ich will nicht auf meine Abrechnungen warten müssen.«
»Gibt es irgendein Problem?«
»Ja. Aber darüber kann ich nicht sprechen. Ich erwarte nicht mehr als das, worum ich Sie gerade gebeten habe.« »Warten Sie einen Augenblick.« Ich hörte, wie er auf Tasten drückte.
»Okay«, sagte er. »Ich habe Ihre Kontonummer. Sie wissen, daß Ihre Karte Ende Februar ausläuft?«
»Hoffentlich wird sich bis dahin diese Sache erledigt haben.«
»Seit Oktober wurde kaum etwas abgebucht.«
»Mich interessieren die letzten Abbuchungen.«
»Zwischen dem 12. und dem 21. Dezember waren es fünf Abbuchungen. Aus New York. Scaletta. Wollen Sie die Beträge wissen?«
»Sagen Sie nur, wieviel es im Durchschnitt war.«
»Hm, durchschnittlich, mal sehen. Ungefähr achtzig Dollar. Was ist das, ein Restaurant?«
»Noch weitere Abbuchungen?«
»Die letzten. Die kommen aus Richmond.«
»Wann?« Mein Puls begann zu rasen.
»Zwei am Freitag, den 22. Dezember.«
Das war zwei Tage, bevor Marino und ich Decken an die Bedürftigen verteilt hatten und Anthony Jones von Sheriff Santa erschossen wurde. Mich schockierte der Gedanke, daß auch Gault in der Stadt gewesen war.
»Bitte, sagen Sie mir was über die Abbuchungen in Richmond.«
»243 Dollar in einer Galerie im Shockshoe Slip.« »Eine Galerie? Sie meinen eine Kunstgalerie?« Ich verstand es nicht.
Shockshoe Slip war um die Ecke von meinem Büro. Ich konnte nicht glauben, daß Gault so dreist war und hier meine Kreditkarte benutzte. Die meisten Ladenbesitzer kannten mich.
»Ja, eine Kunstgalerie.« Er nannte mir Namen und Adresse.
»Können Sie mir sagen, was gekauft wurde?«
Er schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: »Dr. Scarpetta, sind Sie sicher, daß Sie kein Problem haben, bei dem ich Ihnen helfen könnte?«
»Sie helfen mir. Sie helfen mir eine ganze Menge.«
»Mal sehen. Nein, es steht nicht drauf, was gekauft wurde. Tut mir leid.« Er klang enttäuschter, als ich es war.
»Und die andere Abbuchung?«
»USAir. Ein Flugticket für 514 Dollar. Hin- und Rückflug, von La Guardia nach Richmond.«
»Haben Sie das genaue Datum?«
»Nur das Kaufdatum. Hin- und Rückflugtermine müssen Sie bei der Fluglinie erfragen. Ich gebe Ihnen die Ticketnummer. «
Ich bat ihn, sich sofort mit mir in Verbindung zu setzen, wenn weitere Abbuchungen im Computer auftauchten. Ich blickte auf die Uhr und griff zum Telefonbuch. Dann wählte ich die Nummer der Galerie und ließ es lange klingeln, aber niemand nahm ab.
Danach versuchte ich es bei der Fluglinie und gab ihnen die Ticketnummer. Gault war am Freitag, den 22. Dezember um sieben Uhr morgens vo n La Guardia nach Richmond geflogen und am selben Tag um sechs Uhr fünfzig abends zurück. Ich war sprachlos. Er war einen ganzen Tag in Richmond gewesen. Was hatte er an diesem Tag gemacht, außer in der Kunstgalerie einzukaufen?
»Verdammt«, murmelte ich, als ich an die New Yorker
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