Die Tote ohne Namen
fragte Tucker erstaunt.
»Das ist nicht sein Anzug«, sagte ich. »Sie trägt einen ähnlichen Anzug, aber nicht seinen.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Tucker.
»Ein Taschentuch steckt in der Tasche. Mit Gaults Taschentuch hat sie ihm das Blut abgewischt. Und seine Jacke hatte keine Klappen an den Taschen, ihre aber hat welche.«
»Stimmt«, sagte Marino.
Carrie schaute sich im Zimmer um, auf dem Boden, auf dem Bett, als ob sie etwas verloren hätte. Sie wirkte nervös und wütend, und ich war mir sicher, daß das an der nachlassenden Wirkung des Kokains lag. Sie sah sich noch eine Minute länger um und verließ das Zimmer dann wieder.
»Ich frage mich, was das sollte«, sagte Tucker.
»Warten Sie«, sagte Marino und spielte das Band schnell vor, bis Carrie erneut das Zimmer betrat. Sie suchte wieder, warf finstere Blicke um sich, zog die Decke vom Bett und hob das blutige Kissen hoch. Sie kniete sich auf den Boden und sah unter dem Bett nach. Wild um sich blickend, fluchte sie laut vor sich hin.
»Beeil dich«, war Gaults ungeduldige Stimme von irgendwo außerhalb des Zimmers zu hören.
Sie sah in den Spiegel über der Kommode und strich sich das Haar glatt. Einen Augenblick lang starrte sie genau in die Kamera, und ich erschrak über ihr schlechtes Aussehen. Ich hatte sie früher für schön gehalten, mit makelloser Haut, ebenmäßigen Gesichtszügen und langem, braunem Haar. Die Gestalt, die jetzt vor uns stand, war hager, mit glasigen Augen und einem störrischen weißen Haarschopf. Sie knöpfte die Anzugjacke zu und verließ das Zimmer.
»Was halten Sie davon?« fragte Tucker Marino.
»Ich weiß es nicht. Ich hab's mir ein dutzendmal angesehen und werd nicht schlau draus.«
»Sie hat irgendwas verlegt«, sagte Wesley. »Das scheint auf der Hand zu liegen.«
»Vielleicht hat sie nur zum letztenmal das Zimmer kontrolliert«, sagte Marino. »Um sich zu vergewissern, daß sie nichts übersehen haben.«
»Wie zum Beispiel eine Videokamera«, sagte Tucker.
»Es war ihr egal, ob sie etwas übersehen haben«, sagte Wesley. »Sie hat Gaults blutiges Taschentuch auf dem Boden liegenlassen.«
»Beide trugen Handschuhe«, sagte Marino. »Das heißt, sie gingen durchaus vorsichtig vor.«
»Wurde Geld aus dem Haus gestohlen?« fragte Wesley.
»Wir wissen nicht, wieviel«, sagte Marino. »Browns Brieftasche war leer. Wahrscheinlich haben sie Waffen, Drogen und Bargeld mitgenommen.«
»Moment«, sagte ich. »Der Umschlag.«
»Welcher Umschlag?« fragte Tucker.
»Sie haben ihn nicht in die Tasche der Schlafanzugjacke gesteckt. Sie haben Brown angezogen und in dem Sack verstaut, aber der Umschlag war nicht zu sehen. Spul zurück. Spul zurück bis zu der Stelle, um zu sehen, ob ich recht habe.«
Marino ließ das Band zurücklaufen und spielte uns noch einmal die Stelle vor, als Carrie und Gault die Leiche aus dem Zimmer schafften. Brown wurde in den Sack verfrachtet ohne den rosa Umschlag, den ich in der Brusttasche seines Schlafanzugs fand. Ich dachte an die anderen Briefe, die ich bekommen hatte, und an die Schwierigkeiten, die Lucy mit CAIN hatte. Der Umschlag war an mich adressiert und außerdem frankiert gewesen, als hätte der Absender eigentlich beabsichtigt, ihn mir mit der Post zu schicken.
»Das war vielleicht, wonach Carrie gesucht hat«, sagte ich. »Vielleicht stammen die Briefe von ihr. Sie hatte auch vor, diesen letzten an mich zu schicken, deswegen war er adressiert, und eine Briefmarke war draufgeklebt. Und Gault hat ihn, ohne daß Carrie es mitgekriegt hat, in die Schlafanzugtasche gesteckt.«
»Warum sollte Gault das tun?« fragte Wesley.
»Vielleicht konnte er sich die Wirkung vorstellen, die der Brief haben würde«, sagte ich. »Ich würde ihn im Leichenschauhaus sehen und sofort wissen, daß Brown umgebracht worden und Gault daran beteiligt war.«
»Aber damit sagst du, daß nicht Gault CAIN ist, sondern Carrie Grethen«, warf Marino ein.
»Keiner von beiden ist CAIN«, sagte Lucy. »Sie sind Hacker.« Wir schwiegen eine Weile.
»Offensichtlich hat Carrie Gault weiterhin mit dem FBIComputer geholfen« sagte ich. »Sie arbeiten zusammen. Aber ich glaube, daß er den Brief an sich genommen hat, ohne es ihr zu sagen. Ich bin sicher, daß sie danach gesucht hat.«
»Warum sollte sie in Browns Schlafzimmer danach suchen?« fragte Tucker. »Gibt es einen Grund, warum sie ihn mit dorthin genommen hat?«
»Sicher«, sagte ich. »Sie hat sich im Schlafzimmer ausgezogen. Vielleicht
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