Die Tote vom Johannisberg
angewidert. Der Junge mit den Karteikarten kam hinter der Theke hervor. »Ist ja gut«, sagte er leise, verdrehte die Augen und verschwand in einem langen Gang, der rechts in den Behandlungsbereich führte.
Nach einer Minute, in der der andere nichts tat, als stumm auf seinen Monitor zu stieren, ging irgendwo eine Tür auf. Ein Zwei-Meter-Mann stand im Gang. Goldblonde Haare, braungebrannt. Jung-Siegfried im Arztkittel. Oder vielmehr altgewordener Jung-Siegfried, auf jung getrimmt.
Er kam auf mich zu und streckte freundlich die Hand aus. Geradezu weltmännisch.
»Guten Tag, Herr …«
»Rott.«
»Herr Rott. Was verschafft mir das Vergnügen?«
Er öffnete eine Tür, und wir gelangten in ein winziges Büro mit dunkelbrauner Schrankwand und ebensolchem Schreibtisch. Davor stand ein Besucherstuhl.
Gustavson ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder. »Aber ich habe wirklich nicht viel Zeit«, sagte er. »Bitte machen Sie es kurz.«
»Sind Sie Schwede?« fragte ich. »Sie sprechen akzentfrei deutsch.«
Er schüttelte den Kopf. »In Düsseldorf geboren. Meine Großeltern kamen von Stockholm ins Rheinland. Wollten Sie etwa nur das von mir wissen?«
Ich bemerkte ein goldenes Kettchen an seinem Hals. Seine Zähne waren zu perfekt, um echt zu sein. Die Haare waren bestimmt gefärbt. Gustavson war mindestens Anfang fünfzig und tat einiges für sein Aussehen. »Sagt Ihnen der Name Regina Mallberg etwas?« fragte ich.
»Sie ist tot.«
»Sie haben sie persönlich gekannt. Als Sie noch im Klinikum Barmen gearbeitet haben.«
»Ich war damals mit der Familie befreundet. Aber das ist lange her. Wieso interessiert Sie das? Sind Sie Detektiv oder so etwas?«
Ich nickte.
»Wer hat Sie beauftragt?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich versuche herauszufinden, wie Regina Mallberg wirklich umgekommen ist.«
Er winkte ab. »Das ist doch klar. Sie hat sich umgebracht.«
»Sind Sie sich da so sicher? Sie haben sie doch damals behandelt, als sie sich die Pulsader aufgeschnitten hatte.«
»Ja. Da sie tot ist, kann ich darüber sprechen. Ihre Eltern haben mich damals sofort angerufen. Sie kam in unser Krankenhaus, und ich behandelte sie. Die Verletzung war nicht so gefährlich, wie es anfangs schien.«
»Und Mallberg wollte nicht, daß das Ganze an die große Glocke gehängt wurde.«
»Natürlich nicht. Wer will das schon? Ein Selbstmordversuch in der Familie, vor allem in einer so konservativen Familie - das kann sehr peinlich sein, wissen Sie.«
»Noch einmal: Glauben Sie, daß sie sich in der Stadthalle umgebracht hat? Nehmen wir an, der Abschiedsbrief sei gefälscht.«
»Ich kann Ihnen als Arzt nur eines sagen: Selbstmordkandidaten versuchen es immer wieder. Es mußte einmal so weit kommen. Ich weiß, daß Regina große Probleme mit ihren Eltern hatte und auch in ihrem Studium wohl nicht glücklich gewesen ist. Ein Selbstmord ist also keinesfalls auszuschließen.«
»Wann haben Sie Regina Mallberg das letzte Mal gesehen?«
»Das weiß ich nicht genau. Es kann aber nicht lange nach dem Selbstmordversuch gewesen sein.«
»Wirklich? Haben Sie sie später nicht mehr gesehen?«
»Nein.«
»Und das Ehepaar Mallberg? Sie waren mit ihnen befreundet. Warum ist die Freundschaft in die Brüche gegangen?«
Gustavson schien mit den Worten zu ringen. »Das ist nicht so einfach zu sagen …«
»Versuchen Sie’s.«
»Friedrich Mallberg hat ein - ich will mal sagen - Faible für die nordische Kultur. Ich habe schwedische Vorfahren, und das hat ihn interessiert.«
»Können Sie sich nicht etwas genauer ausdrücken?«
»Na ja - er dachte, ich könnte ihm etwas über die nordische Mythologie oder so erzählen. Ich weiß auch nicht genau, was er von mir wollte. Er hat nicht verstanden, daß die Schweden heute damit genausowenig am Hut haben wie die Deutschen.«
»Das klingt eigenartig.«
»Er ist auch ein sehr eigenartiger Mensch. Ich hielt es dann für besser, die Freundschaft zu beenden.«
Die Tür neben uns öffnete sich, und einer der beiden Knaben sah herein. Erst in diesem Moment fragte ich mich, warum Gustavson eigentlich keine weiblichen Sprechstundenhilfen hatte wie andere Ärzte.
Offenbar hatte der Schlag auf den Kopf von gestern abend mein Denkvermögen ziemlich eingeschränkt. Dann fiel der Groschen.
»Herr Müller wartet«, sagte der junge Mann.
Gustavson nickte ihm zu. »Ich komme sofort.« Und dann zu mir gewandt: »Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen, Herr Rott. Ich kann Ihnen wirklich nicht mehr sagen.
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