Die Tote vom Johannisberg
Und ich denke, damit ist unser Gespräch beendet. Aber Ihre Wunde am Kopf, die sollten Sie behandeln lassen. Andy, kannst du den Kopf des Herrn mal versorgen?«
Mir fiel eine Fotografie auf, die hinter dem Arzt an der Wand hing. Es war die Seitenansicht eines nackten Knaben, der auf dem Rücken in einer Wiese lag. Künstlerisch gemacht, in Schwarzweiß. Ich verabschiedete mich von Gustavson.
Eine halbe Stunde später verließ ich die Praxis. Mit einer deprimierenden Erkenntnis: Ich mußte noch einmal ganz von vorne anfangen. Am Ort des Geschehens. Am Johannisberg.
*
Ich rief von unterwegs aus Wintershausen an. Am Nachmittag saß ich wieder vor dem überhäuften Schreibtisch im oberen Stock der Stadthalle. Es kam mir vor, als seien die Papierberge mittlerweile gewachsen. Wintershausen trug diesmal einen dunklen Anzug und eine Fliege. Wahrscheinlich Konzertkleidung.
»Das habe ich mir gleich gedacht, daß mit Ihrer Tagung was faul ist. Aber das macht ja nichts.« Er sah mich heiter an. »Detektiv sind Sie trotzdem? Und ganz schön in Schlägereien verwickelt - nach der Schramme an Ihrem Kopf zu urteilen.«
Ich nickte. »Und Sie können sich vorstellen, worum es geht.«
»Vorstellen tue ich mir mittlerweile gar nichts mehr. Aber ich liebe Detektivgeschichten. Habe ich, glaube ich, letztes Mal schon gesagt. Kennen Sie Raymond Chandler? Detektiv Marlowe? Klar kennen Sie den. So einer sind Sie?«
»Na ja«, wandte ich ein, »ganz so romantisch ist die Sache nun auch wieder nicht.«
»Ist mir klar, ist mir klar«, sagte er. »Also gut. Auf ein neues. Worum geht’s?«
Ich hatte zu dem Mann irgendwie Vertrauen. Und so erklärte ich ihm, daß ich den Tod von Regina Mallberg aufklären wollte. Ich sagte nicht, daß ich von ihrer Mutter dazu beauftragt worden war. Ich verschwieg, daß man mich mittlerweile wieder gefeuert hatte, und ich erzählte auch nichts von dem nächtlichen Überfall auf meine Wohnung. »Ich möchte auch, daß das Ganze unter uns bleibt«, schloß ich.
Wintershausen schwieg eine Weile. Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Alles klar. Aber dann bleibt es auch unter uns, daß Sie mich in Ihre Untersuchungen einbezogen haben.«
Ich nickte wieder. »Sowieso. Informanten gebe ich nicht preis.«
»Wie kann ich Ihnen aber nun konkret helfen? Die Polizei war ja hier. Sie hat die Ermittlungen aufgenommen. Und man geht von einem Selbstmord aus. Mir ist nicht klar, warum Sie das anzweifeln, aber Sie werden Ihre Gründe haben.«
»Was wurde hier genau ermittelt?« fragte ich. »Ich meine, außer den Zeugenbefragungen.«
»Na ja. Man wollte natürlich wissen, welche Verbindungen zwischen dieser Regina Mallberg und der Halle bestehen. Man vermutete persönliche Kontakte der Toten mit Mitarbeitern. Die Polizei ließ sich eine Liste von allen Leuten geben, die hier arbeiten. Jeder einzelne wurde abgeklopft. Ich auch.«
»Und es gab kein Ergebnis?«
»Soviel ich weiß nicht.«
Ich seufzte. »Ich werde das alles noch mal tun müssen. Irgend etwas muß übersehen worden sein.«
»Sind Sie sicher, daß Sie nicht einer Phantasievorstellung nachhängen?«
»Nein. Aber selbst wenn es Selbstmord war: Irgendwie muß sie dort oben hingekommen sein.«
Wintershausen zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es ja Zufall. Die Bühnentechniker haben an diesem Abend mit den Scheinwerfern zu tun gehabt. Man kann durch eine offene Tür schlüpfen, wenn man es unbedingt darauf anlegt. Und wenn man sich gut auskennt.«
»Nur dann?«
»Nur dann. Zu neunundneunzig Prozent. Zufälle gibt es überall.«
»So etwas kann man aber nicht planen«, wandte ich ein.
»Vielleicht hat sie es auch nicht geplant. Vielleicht hat sie zufällig mitbekommen, daß eine Tür offenstand, und ist hinaufgegangen.«
»Wir drehen uns im Kreis. Darüber haben wir schon gesprochen. Einen Selbstmord begeht man nicht aus heiterem Himmel. Eine Frau, die ein Konzert besucht, will sich plötzlich umbringen, sucht nach einer Möglichkeit, findet eine offene Tür, um dann schließlich völlig unvorhergesehen auf den Dachboden zu gelangen … Das paßt nicht. Sie hätte sich von jeder x-beliebigen Brücke stürzen können. Oder hier aus dem Fenster. Oder von der Empore.«
»Sicher. Obwohl - die Empore ist für eine eindeutige Selbsttötungsabsicht vielleicht nicht hoch genug.«
»Was halten Sie von der Möglichkeit, daß sie nicht allein auf dem Dachboden war?«
Wintershausen überlegte. »Das
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