Die Tote von Buckingham Palace
Straßenaufstände ausgebrochen, vor allem im Londoner Osten, und dort insbesondere in Whitechapel.
Als Charles Voisey drei Jahre später den Versuch unternommen hatte, tatsächlich den Umsturz herbeizuführen und eine Republik auszurufen, hatte es Pitt bei seinen Ermittlungen mit demselben Grundmuster von Empfindungen zu tun gehabt. Wenn die Öffentlichkeit jetzt Kenntnis von den Morden bekäme, würde das einen Skandal auslösen, der angesichts des nicht lange zurückliegenden und um ein Haar geglückten Staatsstreichs höchst gefährlich werden konnte. Narraway wusste, dass die Grundstimmung politischer Unruhe im Lande weit bedrohlicher war, als Pitt annahm.
Auch das wagemutige und weit in die Zukunft reichende Projekt einer Eisenbahnlinie, die das Kap der Guten Hoffnung mit Kairo verbinden sollte, bereitete ihm Unbehagen. Auf den ersten Blick machte es einen vielversprechenden Eindruck und schien auch durchaus im Sinne Englands zu sein – ein weiteres Meisterstück von Geografen und Ingenieuren. Man durfte annehmen, dass es dem afrikanischen Kontinent ein bis dahin nie gekanntes Maß an Einigkeit bescheren und in England den bedeutendsten Aufschwung des Handels seit den – über ein Jahrhundert zurückliegenden – Anfängen der East India Company auslösen würde. Ganz davon abgesehen, würde die Zivilisation und damit gegebenenfalls auch das Christentum in zuvor noch nie gänzlich erforschte Gebiete Afrikas vordringen, denen das einen beachtlichen kulturellen Fortschritt bescheren würde.
Andererseits durfte man auf keinen Fall übersehen, dass ein Unternehmen von so ungeheurer Tragweite auch Nachteile mit sich brachte, an die bisher niemand gedacht zu haben schien. Narraways Einschätzung nach könnte sich der eine oder andere von ihnen ohne Weiteres als verhängnisvoll erweisen. Schon seit Langem hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, sorgfältig alle Aspekte jeder Frage abzuwägen und Kritik mindestens ebenso ernst zu nehmen wie Lob. Auch wenn ihm diese mitunter schmerzliche Vorgehensweise bei anderen nicht immer Beliebtheit eintrug, war es ihm dank ihrer schon oft gelungen, nicht nur Geld zu sparen, sondern vor allem auch so manches Menschenleben zu retten. Ganz davon abgesehen, hatte er auf diese Weise auch einer ganzen Reihe politischer Fettnäpfchen ausweichen können.
Bisher hatten sich bei diesem Unternehmen nur wenige Gegenstimmen zu Wort gemeldet. Teils handelte es sich dabei um Neider, teils um ängstliche Gemüter, deren Ansicht nach es zu ehrgeizig war. Narraway hoffte, beim Abendessen, zu dem er sich mit Watson Forbes verabredet hatte, die Unterhaltung über das Thema so weit ausdehnen zu können, wie er es für nötig erachtete. Eigentlich hätte Minnie Sorokines Tod einen hinreichenden
Anlass geliefert, die Sache abzublasen, doch war es ohne Weiteres möglich, dass die Morde im Palast in keinerlei Beziehung zum Projekt der Kap-Kairo-Bahn standen, sondern einfach auf Julius Sorokines sexuelle Abartigkeit oder Irresein zurückgingen. Gewiss, es gab auch noch andere Möglichkeiten. Die aber waren so grauenhaft, dass man sich darüber besser erst gar keine Gedanken machte. Das Schreckgespenst des Bauchaufschlitzers lauerte nach wie vor im Hintergrund.
Forbes’ Butler öffnete Narraway und führte ihn in den behaglich eingerichteten Raum mit den afrikanischen Gemälden und Erinnerungsstücken, den er von seinem vorigen Besucht kannte.
Forbes schenkte seinem Besucher und sich selbst Sherry ein und stellte sich an den Kamin, obwohl darin kein Feuer brannte. Die Sonne des Spätsommerabends, die durch die hohen Fenster hereinfiel, malte bunte Muster auf den Orientteppich. Allem Anschein nach leicht belustigt, sagte Forbes: »Da ich nicht das Geringste mit dem Eisenbahnprojekt zu tun habe, weiß ich gar nicht, was ich Ihnen sagen könnte, Mr Narraway. Hatte ich Ihnen das beim vorigen Mal nicht klargemacht?«
»Durchaus. Gerade deshalb nehme ich an, dass Ihre Meinung dazu weit weniger als bei anderen von dem Wunsch beeinflusst ist, dass das Vorhaben gelingt.«
Forbes lächelte. »Sie halten also Dunkeld für zu voreingenommen, als dass er die Angelegenheit vorurteilslos betrachten könnte?«
»Wären Sie das nicht auch, wenn Ihre Zukunft und Ihre Ehre davon abhingen?«, fragte Narraway zurück.
Forbes nippte an seinem Sherry und ließ ihn eine ganze Weile seine Zunge umspielen, bevor er ihn herunterschluckte. »Ohne Frage. Wohl jeder Mann träumt von einem solchen Abenteuer – ein
Weitere Kostenlose Bücher