Die Tote von Buckingham Palace
eigentlich, ich hätte zugelassen, dass er im selben Haus wie meine Tochter lebt, wenn ich etwas in der Art auch nur vermutet hätte?« Seine Stimme war rau und brach fast vor Kummer.
Wieder verdrängte das Mitleid mit ihm ihren eigenen Zorn. »Das hat keiner von uns erkannt, Cahoon, sonst hätten wir etwas unternommen, um das zu verhindern«, sagte sie sanft. Machte er sich Vorwürfe, weil er die Zusammenhänge nicht verstanden und nicht dafür gesorgt hatte, dass Julius rechtzeitig verhaftet wurde? Wie konnte sie ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war, ohne zugleich unaufrichtig und herablassend zu wirken?
Er sah sie wieder mit jenem sonderbaren Ausdruck des Triumphes an, der den Verdacht nahelegte, dass er die Katastrophe in einen kläglichen Sieg ummünzte. »Nur schade, dass er dafür
nicht an den Galgen kommt«, fuhr er fort. »Um den Kronprinzen nicht bloßzustellen, wird man die Sache vertuschen und Julius lediglich für den Rest seines Lebens in ein Irrenhaus sperren.« Bei diesen Worten sah er sie gespannt an. Sein Gesicht verzog sich zu einer Art Lächeln.
Mit einem Mal wurde ihr klar, dass Cahoon ihn von Anfang an gehasst hatte. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen? Trotz Minnies Tod war er nach wie vor fähig, über den Untergang des Feindes zu jubeln. Hatte er diesen Untergang womöglich geplant, wenn auch auf andere Weise, und war sein Vorhaben fehlgeschlagen? Wie mochte der Plan ausgesehen haben? Hatte man Julius des Mordes an der Prostituierten bezichtigen und ihn auf diese Weise zugrunde richten wollen?
Aber warum? Weil sie Julius liebte? Cahoon seinerseits liebte sie nicht, hatte sich nie für sie als Person interessiert. Aber sie gehörte zu ihm. Hier ging es nicht um Eifersucht, sondern um den Hass eines Menschen, der sich gekränkt fühlte. Seine Eitelkeit war verletzt, man hatte ihn in seinem Besitztrieb gestört.
Sollte sie zulassen, dass er sie auf diese Weise niedermachte? Glaubte sie ihm, dass Julius die andere Frau und danach auf die gleiche Weise Minnie umgebracht hatte, als diese dahintergekommen war und ihm das ins Gesicht gesagt hatte? Besser, es jetzt zu bestreiten, ganz gleich, was es kostete, als den Traum zu begraben. »Dazu muss man ihm die Schuld daran aber erst einmal nachweisen«, sagte sie.
»Keine Sorge«, gab er zurück. Wieder leuchteten seine Augen. »Halt dich an deinen Illusionen ruhig fest, solange du kannst, Elsa, und bilde dir ein, was du willst. Weder kennst du die Männer, noch weißt du, was Liebe ist. Julius ist in gemeingefährlicher Weise geistesgestört. Minnie hatte den Mut, sich ihm entgegenzustellen. Aber sie war auch schon immer mutiger, stärker und besser als du!«
Sie sah ihn an und erkannte den Hass in seinem Gesicht, Hass auf Julius, aber auch auf sie. In seinem tiefen Schmerz um Minnie – und den glaubte sie ihm – genoss er das Bewusstsein, dass
Julius ebenfalls vernichtet würde. Vielleicht war das alles, was ihm jetzt noch blieb?
Außer sie ebenfalls zu vernichten.
Auf welche Weise würde er das tun? Solange Julius in seinem Zimmer eingeschlossen war, hatte er keine Möglichkeit, ihr die Kehle durchzuschneiden und den Unterleib aufzuschlitzen, um Julius die Schuld daran zu geben. Wohl aber konnte er sie auf irgendeine Weise in etwas verwickeln, sich anschließend von ihr lossagen und sich von ihr scheiden lassen. Dann wäre es ihm vielleicht sogar möglich, Amelia Parr zu heiraten!
Sie sah ihn an, suchte in seinem Gesicht und war fest überzeugt, dass es sich so verhielt. Nichts konnte sie schützen, außer ihrer eigenen Klugheit und Nervenkraft sowie dem Willen, sich nicht besiegen zu lassen.
»Wir werden sehen«, sagte sie leise. »Noch ist die Sache nicht ausgestanden.«
KAPITEL 9
A uf seinem Weg zu Forbes’ Haus sah Victor Narraway nichts von den im Sonnenschein daliegenden Straßen, durch die seine Droschke fuhr. Die beiden Morde im Buckingham-Palast machten ihm größere Sorgen, als er Pitt gegenüber eingestanden hatte. Immerhin lag es erst fünf Jahre zurück, dass die Königin zur Zeit der Gräueltaten, die der mittlerweile weithin als ›Jack der Bauchaufschlitzer‹ bekannte Massenmörder in Whitechapel verübt hatte, um ein Haar hätte abdanken müssen. Der Ruf der Krone hatte so sehr unter den Extravaganzen und den hohen Schulden des Kronprinzen gelitten, dass viele Menschen zu einer Änderung der Regierungsform bereit waren, und so wäre aus England beinahe eine Republik geworden. In jener Zeit waren weithin
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