Die Tote von Buckingham Palace
scheinbaren Munterkeit auch Qualen gespürt hatte.
Sie holte Luft, um ihm all das zu sagen. Sogleich aber begriff sie, dass das töricht wäre. Wenn nun Julius gar nicht schuldig war, sondern jemand die Dinge so eingefädelt hatte, dass es lediglich danach aussah? Hatte sie nicht genau das angenommen? Doch wer wäre das, wenn nicht Cahoon? Hing es damit zusammen, dass er Julius hasste, weil Julius nicht Minnie liebte, sondern Liliane Quase? Weil er die Minnie damit zugefügte Kränkung so empfand, als gelte sie ihm selbst?
Nein, das Motiv war ein anderes, weit offenkundigeres und verständlicheres. Jetzt sah sie es ganz deutlich. Er wollte sich von ihr trennen, damit er Amelie Parr heiraten konnte. Solange die Außenwelt sie als liebende Gattin und gute Ehefrau sah, gab es für ihn keinen Grund, sich ihrer zu entledigen. Nie und nimmer wäre er bereit, den Ruf zu schädigen, den er sich mit so großem Aufwand erarbeitet hatte. Keinesfalls war er bereit, auf den Adelstitel zu verzichten, den er schon so lange anstrebte. Er war wie ein Verhungernder, der sich nach Nahrung sehnt, nur dass es in diesem Fall darum ging, dass er zur Oberschicht dazugehören wollte. Sein Leben lang hatte er sich danach gesehnt, vom Adel anerkannt zu werden, und genau das war ihm bisher versagt geblieben.
Er musste unbedingt Elsa in den Augen der Gesellschaft unmöglich machen, damit es ihm niemand verargen konnte, wenn er sich von ihr lossagte. Er musste dafür sorgen, dass andere den Eindruck gewannen, auch sie an seiner Stelle hätten keine Wahl gehabt und sich ebenso verhalten.
Wenn Elsa jetzt für Julius eintrat, in einer Situation, in der es so aussah, als sei er nicht nur wahnsinnig, sondern habe insgesamt drei Morde auf sein Gewissen geladen, dürfte es nicht schwerfallen, alle Welt zu überzeugen, dass sie eine Affäre mit
ihm gehabt hatte. Dann stünde sie als Frau da, die nicht nur ihren Mann, sondern auch dessen Tochter hintergangen hatte. Wer würde ihr schon glauben, dass sie sich genau diesen Fehltritt versagt hatte?
Damit war klar, dass sie entweder nicht kämpfen durfte oder um jeden Preis gewinnen musste, falls sie sich doch dazu entschloss.
»Tatsächlich?«, sagte sie mit gleichmütig klingender Stimme. Es kostete sie so große Mühe, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben. Sie war froh, dass sie die Hände in den Rockfalten verborgen halten konnte. »Das sollte mich wundern. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas entdecken werden, weil all das vermutlich vertuscht wird. Nachdem du dich so angestrengt hast, dir den Kronprinzen gewogen zu machen, kann es nicht dein Wunsch sein, einen Skandal auszulösen, der dazu führen würde, dass er dich fallen lassen muss. Nicht wahr?«
Sein Gesicht verfinsterte sich. Er trat zwei Schritte auf sie zu und stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie nicht nur den Zigarrenrauch in seinen Kleidern wahrnahm, sondern auch den Geruch seiner Haut und die Wärme spürte, die von ihm ausging. Sie rührte sich nicht, so schwer es ihr fiel, sich auf den Beinen zu halten und mit keinem Muskel zu zucken. Er hatte ihre Worte, mit denen sie ihm teils ausweichen und teils nachgeben wollte, als Drohung aufgefasst. Offensichtlich war sie nicht besonders geschickt vorgegangen.
Er holte aus und schlug ihr so kräftig ins Gesicht, dass sie taumelte, mit den Kniekehlen ans Bett stieß und hilflos auf den Rücken fiel.
Dann stützte er sich auf der Bettkante ab und beugte sich so dicht über sie, dass sein Gesicht unmittelbar über ihrem war. »Es ist aussichtslos, gegen mich zu kämpfen«, zischte er ihr durch die Zähne zu. »Ich bin nicht nur stärker als du, sondern auch klüger, erfahrener und mutiger. Ganz davon abgesehen, bin ich dein Mann und habe damit das Recht auf meiner Seite. Daher kann ich dir nur raten: Halt dich aus der Sache heraus. Immerhin
kommt Julius nicht an den Galgen, sondern wird lediglich weggesperrt.«
Sie hielt seinem Blick stand.
Nach wie vor über sie gebeugt, wartete er auf ihre Antwort, doch es gab nichts, was sie hätte sagen können. Endlich fragte sie: »Willst du etwa die ganze Nacht so bleiben?« Ihr Gesicht brannte, sie spürte die Schmerzen. Sie entspannte ihren Körper bewusst. »Da wirst du mit Sicherheit eher müde als ich«, fügte sie hinzu.
Er richtete sich unvermittelt auf und verließ den Raum, wobei er die Tür hinter sich zuschlug. Sie sprang auf und verschloss beide Türen, sowohl die zum Gang als auch die zum Ankleidezimmer, das mit
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