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Die Tote von Buckingham Palace

Die Tote von Buckingham Palace

Titel: Die Tote von Buckingham Palace Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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teuer dafür bezahlen müssen und von Stund an nicht nur in Ungnade fallen, sondern ein gesellschaftlicher Niemand sein. Doch diese Erwägungen konnten sie nicht abhalten. Was hatte sie schon noch zu verlieren?
    Wenn nun aber Julius so war, wie ihn Cahoon geschildert hatte? Dann würde er möglicherweise über sie herfallen, ihr die Schlüssel entreißen und fliehen. Sicher war ihm bewusst, dass man ihn nie und nimmer vor ein ordentliches Gericht stellen würde. Flucht wäre für ihn die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass er nicht für den Rest seines Lebens in ein Irrenhaus gesperrt würde.
    Fühlte sie sich verlockt, ihn absichtlich entkommen zu lassen? Unbedingt! Die Vorstellung, dass er auf alle Zeiten in dieser Art Kerker schmachten müsste, war fürchterlich. Wenn es dahin käme, würde er irgendwann wirklich verrückt werden, und eine Möglichkeit, von dort zu entkommen, würde es nie geben. Dieser
Gedanke legte sich wie eine herabsinkende nächtliche Finsternis auf sie und verdrängte alle anderen.
    Doch wie weit würde er kommen? Vermutlich würde er nicht einmal die Chance haben, das Palastgelände zu verlassen, denn in ganz England wurde wohl kaum ein Gebäude besser bewacht.
    Es dauerte über eine Stunde, bis sie die Schlüssel fand, von denen sie hoffte, dass es die richtigen waren. Ich muss verrückt sein, ging es ihr durch den Kopf, dass ich mitten in der Nacht in Julius’ Schlafzimmer einbreche. Sofern Cahoon sie dort überraschte, hätte sie ihm keinen besseren Vorwand liefern können, sie hinter Schloss und Riegel bringen zu lassen.
    Als sie den Schlüssel im Schloss drehte, zitterten ihre Hände nicht. Sie waren lediglich ein wenig feucht. Aber ihr Magen rumorte. Dann war sie in seinem Zimmer. Leise zog sie die Tür zu, schloss ab und steckte den Schlüssel in die winzige Tasche, die in eine Falte ihres Kleides eingenäht war. Außer dem Hämmern ihres Herzens und ihrem schweren Atem konnte sie nichts hören.
    Allmählich beruhigte sie sich, und nach einer Weile glaubte sie, Atemzüge wahrzunehmen.
    »Julius.«
    Nichts. Sie sah und hörte nichts.
    »Julius!«
    Etwas bewegte sich auf dem Bett. Sie kam sich lächerlich vor. Wie um alles in der Welt konnte sie ihre Anwesenheit erklären? Sie hatten miteinander nie über Liebe gesprochen. Vielleicht, ja wahrscheinlich, hatte sie sich einfach alles nur eingebildet. Er würde im Nachthemd sein, und sie war mitten in der Nacht allein in sein Zimmer gekommen. Falls Cahoon sie hier fand, würde das Julius’ und ihr Ende bedeuten. Sicher war es genau das, was er wünschte. Hatte er das womöglich sogar so geplant? Dann hätte sie ihm genau in die Hände gespielt. Wie unglaublich dumm von ihr! Sie tastete nach dem Schlüssel, um den Raum wieder zu verlassen.
    Dann hörte sie vom Bett herüber ein Rascheln. »Elsa?«
    Zu spät. Falls sie jetzt die Tür öffnete, würde ihm das schwache
Licht der die ganze Nacht auf dem Gang brennenden Lampe ihr Gesicht zeigen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu ihren Überzeugungen zu stehen, für alles zu kämpfen, woran sie glaubte.
    »Julius. Ich muss mit dir sprechen.«
    »Wie bist du hereingekommen? Wenn man dich hier findet, bist du erledigt.« In seiner Stimme lag Besorgnis. »Du kannst mir nicht helfen. Bitte geh, bevor Cahoon etwas merkt.«
    »Man hat nicht die Absicht, dich vor Gericht zu stellen«, sagte sie und blieb stocksteif stehen, weil sie nicht wusste, wogegen sie in der Dunkelheit stoßen würde, wenn sie einen Schritt tat. »Sie wollen dich einfach für verrückt erklären lassen und in eine Irrenanstalt stecken, aus der du nie wieder herauskommst. Niemand wird dich je wiedersehen.«
    Er schwieg. War ihm das nicht klar gewesen?
    »Es tut mir so entsetzlich weh.« Ihr Versuch, mit fester Stimme zu sprechen, misslang. Sie sehnte sich danach, sein Gesicht zu sehen, doch bestand unter Umständen die einzige Möglichkeit, sich zu beherrschen, darin, dass sie es nicht sah.
    »Julius?«
    »Ja?« Seine Stimme klang unsicher und rau. Die Dunkelheit sicherte ihm eine Art Privatsphäre, und dafür war sie dankbar. So gern sie ihn umarmt und zumindest den geringen Trost gespendet hätte, den eine solche Berührung bedeutete, blieb sie nach wie vor stehen, wo sie war, denn nie hatte es auch nur das Geringste zwischen ihnen gegeben, dem sie hätte entnehmen dürfen, dass das sein Wunsch gewesen wäre. Wenn er für sie etwas anderes empfand als sie für ihn, wäre eine Umarmung in jeder Hinsicht peinlich

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