Die Tote von Buckingham Palace
wo niemand sie fand, und dann Pitt holen. Zwar wusste sie nicht, was er damit anfangen konnte, denn das Ganze ergab nicht den geringsten Sinn, aber irgendjemand musste ihm eine ziemlich abenteuerliche Lüge aufgetischt haben. Wer mochte die Laken der Königin an sich gebracht und benutzt haben – vor allem aber: wozu? War die Leiche der armen Frau darin transportiert worden, hatte man sie damit zugedeckt oder sie eine Weile darunter verstecken wollen?
Sie hatte die Laken noch in der Hand, als sie von der Treppe her erst Schritte, dann das Kichern einer Frau und schließlich die Stimme des Lakaien Edwards hörte, der die Frau mit Schmeichelworten bedrängte. »Ach was, Ada, Se woll’n es doch selber!«
Auch wenn sich Gracie nie zuvor in einer solchen Lage befunden hatte, so war ihr doch klar, was der Mann meinte. Was sie nicht wusste, war, ob er damit recht hatte und bei Ada auf Zustimmung stieß. Auf jeden Fall würde sich Gracie, wenn man sie hier entdeckte, einen der beiden zum Feinde machen, höchstwahrscheinlich sogar beide. Als ob ihr Ada allein nicht schon genug zusetzte! Der Gedanke, wider Willen Zeugin einer intimen Szene zu werden, war ihr ausgesprochen peinlich.
»Frechdachs!«, sagte Ada, doch es klang alles andere als abweisend. »Ich weiß gar nich’, wovon Se reden. Se halten zu große Stücke auf sich, Mr Edwards.«
»Nich halb so große wie auf Sie!«, gab er zurück. »Nu halten Se doch schon still.«
Noch hatten die beiden Gracie nicht gesehen, doch würde es jeden Augenblick so weit sein, und dann wäre ihnen klar, dass sie alles mitgehört hatte. Ein entsetzlicher Gedanke. Was sollte sie tun? Die Vorstellung, sich in einem der Wäschekörbe mit den schmutzigen Laken fremder Menschen zu verstecken, war ihr zuwider, und wie könnte sie das erklären, falls man sie dort entdeckte? Sie musste die Laken der Königin unbedingt für Pitt beiseiteschaffen, doch der einzige Weg nach draußen führte über die Treppe, deren Fuß Ada und Edwards inzwischen erreicht zu haben schienen. Wäre Gracie nicht so klein gewesen, dass sie sich hinter dem Wäschekorb verstecken konnte, die beiden hätten sie längst entdeckt.
Die Laken in Sicherheit zu bringen war wichtiger, als sich selbst die peinliche Situation und künftige Schikanen zu ersparen. Schließlich würde ihr Aufenthalt im Palast lediglich einige Tage dauern. Doch was konnte sie tun, um die Aufmerksamkeit der beiden abzulenken, damit es ihr möglich war, die Laken unauffällig fortzuschaffen? Als sie nachdenklich den Blick über die Wandborde mit den zahlreichen Töpfen und Packungen schweifen ließ, blieb er an den großen Kupferkesseln hängen, in denen Bettwäsche und Handtücher ausgekocht wurden. Sofern es ihr gelang, die Klappe für die Luftzufuhr an einem von ihnen zu öffnen, würde in kürzester Zeit dichter heißer Dampf den ganzen
Raum erfüllen, sodass nichts mehr zu sehen war. Unter Umständen gab es sogar eine kleine Überschwemmung … Während dann Ada und Edwards alle Hände voll zu tun hätten, das Schlimmste zu verhindern, konnte sie die Laken mit der königlichen Stickerei ungesehen rasch in das Kleiefass stecken, zur Treppe huschen und dann von dort ganz beiläufig in die Waschküche treten, als komme sie gerade von oben. Der Plan konnte, ja, er musste gelingen.
Hinter den hohen Korb gekauert, griff sie nach dem langen Holz, das dazu diente, die Wäsche im großen Kupferkessel umzurühren. Wenn sie sich ganz lang machte, konnte sie damit die Klappe erreichen. Ihr Arm schmerzte von der Anstrengung, während sie das schwere Holz vorsichtig in deren Richtung schob. Auf keinen Fall durfte sie eine plötzliche Bewegung machen, die die Aufmerksamkeit der beiden erregen würde.
Adas Kichern wurde immer lauter, während Edwards unaufhörlich leise auf sie einsprach. Sofern Gracie ihr Vorhaben nicht im ersten Anlauf gelang, dürfte ihre Situation unhaltbar sein. Das lange Rührholz zog ihren Arm mit Macht nach unten, und als sie die Klappe schließlich vorsichtig aufgestoßen hatte, standen ihr Tränen der Anstrengung in den Augen. Kraftlos sank ihr Arm nieder, und laut klapperte das Holz zu Boden.
Es war ein wahres Wunder, dass keiner der beiden etwas davon merkte. Wenn Ada sie jetzt entdeckte, würde sie ihr nie verzeihen. Das aber konnte sie sich auf keinen Fall leisten, stand sie ihr doch bereits feindselig genug gegenüber. Wilde Vorstellungen von einem Ende wie dem der Prostituierten in der Wäschekammer jagten Gracie durch
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