Die Tote von Buckingham Palace
nicht lernen lässt, sondern ein Geschenk der Natur ist. Er setzte sich Pitt gegenüber und wartete auf dessen Fragen.
»Aus welchem Grund haben Sie die Gesellschaft früher verlassen, Mr Sorokine?«, begann Pitt die Befragung ohne einleitende Floskeln.
Die Frage schien Sorokine unangenehm zu sein. Mit einem Mal kam Pitt der Gedanke, er könne einen Teil der Zeit mit einer anderen Frau zugebracht und sich deshalb der Gesellschaft der von seinem Schwiegervater herbeigeschafften Prostituierten entzogen haben. War das der Grund, warum sich die bezaubernde Minnie Sorokine ihrem Schwager anvertraut hatte?
»Waren Sie mit jemandem verabredet?«, fragte er sogleich nach. »In dem Fall könnte der oder die Betreffende aussagen, wo Sie sich zur Tatzeit befunden haben, ohne dass Ihre Frau davon erfahren muss.«
Trotz seines sichtlichen Unbehagens lachte Sorokine laut auf. Es klang echt und ungekünstelt. »Ich hätte nicht das Geringste dagegen, wenn es sich so verhielte. Bedauerlicherweise ist das aber nicht der Fall. Ich war ganz und gar allein. Sogar mein Kammerdiener kann höchstens für die erste halbe Stunde Zeugnis für mich ablegen, doch dürfte das kaum der Zeitraum sein, um den es geht, da sich die anderen noch nicht mit den Frauen zurückgezogen hatten.«
»Und warum haben Sie die Gesellschaft früher verlassen?«, fragte Pitt. »Haben Sie sich nicht wohlgefühlt? Heute scheint es Ihnen recht gut zu gehen.«
»Mir hat nichts gefehlt«, gab Sorokine zur Antwort. Er wirkte befangen. »Ich wollte mich einfach nicht an dieser Art von plattem Vergnügen beteiligen.«
Pitt hob interessiert die Brauen und mahnte sich dann, keine übereilten Schlüsse zu ziehen.
Sorokine verstand ihn sofort und errötete. »Ich hege gewisse Gefühle für eine andere Frau«, sagte er mit belegter Stimme. Offensichtlich war es ihm unangenehm, das gegenüber einem Fremden einräumen zu müssen. »Mir liegt viel an ihrer guten Meinung, und daher wäre es mir äußerst unlieb, wenn sie Grund zu der Annahme hätte, dass ich mich in Gesellschaft von Prostituierten dem Trunk und der Unzucht hingebe.« Er hob den Blick und sah Pitt mit überraschender Offenheit an.
»Verzeihung«, sagte Pitt und kam sich dann töricht vor. Schließlich tat er nur seine Arbeit. Den Gedanken, der ihm anfangs gekommen war, hatte er sofort beiseitegeschoben. Auf jeden Fall würde er sich diese Äußerung Sorokines gut merken, hatte er doch damit eine weitere Schicht des komplizierten Beziehungsgeflechts freigelegt, das zwischen diesen Menschen bestand. Meinte er womöglich die hinreißende Mrs Quase, deren Mann nur allzu häufig betrunken war und verächtlich und geringschätzig von sich selbst sprach?
Das wäre nur allzu verständlich. Oder meinte er die Frau seines Bruders, die elegante und zurückhaltende Olga Marquand, wenn nicht gar Elsa Dunkeld, die so fern wirkte wie ein unentdecktes Land, in dem alles noch der Erkundung harrte? Allerdings musste ein Mann, der Cahoon Dunkelds Tochter links liegen ließ und den Versuch unternahm, dessen Frau für sich zu gewinnen, ausgesprochen tapfer sein.
Er sah Sorokine aufmerksam an. Nein, diese Art von Mut vermochte er in dessen Zügen nicht zu entdecken. Die nötige Willenskraft besaß er möglicherweise, aber ihm fehlte das Feuer, die Entschlossenheit.
Er stellte noch einige weitere Fragen, erfuhr aber nichts, was ihn weitergebracht hätte. Schließlich bedeutete er Sorokine, dass er ihn nicht mehr brauche, und bat Dunkeld erneut zu sich.
»Nun?«, fragte dieser, als er die Tür hinter sich schloss. »Haben
Sie irgendetwas erreicht, oder genügt es Ihnen, dass Sie den Kronprinzen beleidigt und alle anderen aufgeschreckt haben?« Er blieb stehen, sodass er Pitt weit überragte.
Pitt beschloss, sitzen zu bleiben, und gab sich betont entspannt. »Was war eigentlich in der großen Kiste, die man Ihnen in der Mordnacht gebracht hat?«, fragte er ruhig und schlug die Beine übereinander. »Und wo befindet sie sich zurzeit?«
»Was?« Dunkeld hob aufgebracht die Stimme. »Um mich das zu fragen, holen Sie mich mitten aus der Besprechung? Haben Sie überhaupt schon versucht, dahinterzukommen, wer die arme Frau umgebracht hat?« Er beugte sich drohend vor. »Sie haben wohl vollständig den Verstand verloren! Haben Sie auch nur ansatzweise die Bedeutung dessen verstanden, was passiert ist? Im Palast der Königin ist eine Prostituierte ermordet worden! Was muss eigentlich noch passieren, damit Sie sich an die Arbeit
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