Die Tote von Buckingham Palace
nahestand, einer seiner Angehörigen? Dann kam nur Julius Sorokine infrage. Als dessen Ehefrau kannte sie nicht nur sein Wesen, sondern auch seine verborgensten Gewohnheiten und Vorlieben, und sie hatte ihn verdächtigt. Es war Pitt von Anfang an schwergefallen zu glauben, dass eine intelligente – und aufrichtige – Frau mit einem solchen Mann verheiratet sein konnte, ohne Angst oder Zweifel zu haben.
Jetzt liefen Dunkeld Tränen über die Wangen. Er gab keinen Laut von sich.
Pitt fasste ihn sacht an der Schulter. Der Mann war ihm alles andere als sympathisch – weder konnte er die Drohungen vergessen, die er ihm gegenüber ausgestoßen hatte, noch die Freude an der Macht, die er dabei an den Tag gelegt hatte –, doch in diesem Augenblick empfand er für ihn nichts als Mitleid.
»Mit einem Mal habe ich Angst um sie bekommen«, sagte Dunkeld mit halb erstickter Stimme. Erneut fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und verstrich dabei einen Blutfaden aus der Wunde an seinem Knöchel. Seine Wangen waren geschwollen.
»Ich … ich bin zu ihr gegangen, um sie zu ermahnen, vorsichtig zu sein. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie tun wollte!« Er hielt unvermittelt inne.
»Hat sie Ihnen gesagt, was sie weiß?«, fragte Pitt. »Sie dürfen den Mann nicht decken, ganz gleich, wer er ist. Ist Ihnen denn nicht …« Dann sah Pitt das Entsetzen in Dunkelds Augen, und die Worte erstarben ihm auf den Lippen. »Was ist geschehen?«, schrie er ihn förmlich an.
»Ich habe sie gefunden«, flüsterte Dunkeld. »Sie lag auf dem Boden ihres Zimmers. Mit durchschnittener Kehle und …« Ein heftiger Schauer überlief ihn. »Ihr Kleid war völlig zerrissen und ihr … Unterleib aufgeschlitzt. Alles war voll Blut. Ganz … wie … Großer Gott! Ganz wie die Hure in der Wäschekammer. Ich bin zu spät gekommen!«
Es blieb nichts mehr zu sagen. Sein Mitgefühl zu äußern wäre eine so unzulängliche Reaktion gewesen, dass der bloße Versuch einer Kränkung gleichgekommen wäre. Pitt fühlte sich schuldig. Wenn er seine Aufgabe besser, früher und mit mehr Scharfsinn erledigt hätte, wäre Minnie Sorokine noch am Leben. Er rechnete damit, dass ihm Dunkeld das vorhalten oder ihn sogar körperlich angreifen würde, um seine eigene Qual erträglicher zu machen. Seine Schläge würden ihn allerdings kaum härter treffen als die Selbstvorwürfe, die er sich machte. Die junge Frau, der
Gracie durch den ganzen Palast gefolgt war, während sie die Dienstboten nach dem zerbrochenen Porzellan und den Eimern voller Wasser gefragt hatte, war so unglaublich lebendig gewesen. Wie es aussah, hatte sie aus den Antworten die richtigen Schlüsse gezogen – während Pitt nach wie vor im Dunkeln tappte! Er war dumm, von geradezu sträflicher Unfähigkeit. Nie würde er diese Schuld abtragen können.
Dunkeld sprach wieder. »Ich habe dann Julius aufgesucht … ihren Mann … um es ihm zu sagen. Das erschien mir das Natürlichste.«
»Ja?« Pitt konnte nur ahnen, wie groß der Kummer des Mannes war.
Dunkeld sah ihn an. »Er war in seinem Schlafzimmer, halb angezogen, obwohl es noch fast Nacht war. Er hat mich nur einfach mit wilden Blicken angestarrt.« Dunkeld begann zu zittern. »Wie ein Wahnsinniger. Seine Haut war zerkratzt, Hände und Gesicht – alles war voll Blut. Da … da ist mir aufgegangen, dass er das getan haben musste. Ich konnte es nicht ertragen und … ich habe jede Beherrschung verloren und auf ihn eingeprügelt … Gott allein weiß, warum ich ihn nicht umgebracht habe. Ich bin erst wieder zu mir gekommen, als er am Boden lag und ich merkte, dass ich auf einen Bewusstlosen einschlug. Irgendwie hat die Erkenntnis, dass er nicht mal mehr merkte, was ich mit ihm tat, meine Wut so weit abgekühlt, dass ich wieder zur Besinnung kam.«
Pitt stellte es sich vor. Beide waren groß und kräftig. Zwar war Sorokine jünger als sein Schwiegervater, mochte aber bei einem Überraschungsangriff den Vorteil eingebüßt haben, den das im Normalfall bedeutet hätte. Jetzt begriff Pitt, woher die Abschürfungen, der offene Knöchel und die Blutergüsse in Cahoons Gesicht, das immer mehr anschwoll, stammten. Auch wenn der Kampf nicht lange gedauert haben mochte, war er wohl sehr heftig gewesen.
»Wo ist er jetzt?«, fragte er leise. Er konnte Dunkeld keinen Vorwurf machen. Er brauchte nur daran zu denken, wie er sich
verhalten würde, wenn es um seine eigene Tochter Jemima gegangen wäre. Er war sicher, er hätte den Mann in
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