Die Tote von Buckingham Palace
mir, dass Sie diese Verletzungen im Gesicht bereits hatten, als er hereinkam.«
»Was für Verletzungen?« Er tastete erneut nach der Lippe. »Das stimmt nicht. Ich habe Ihnen doch gesagt, er ist hier hereingekommen und hat angefangen, wie verrückt auf mich einzudreschen!« Dann wich alle Farbe aus seinem Gesicht, und er stand so rasch auf, dass Pitt vorsichtshalber zurückwich.
»Großer Gott! Sie glauben, ich habe sie umgebracht!«, sagte er entsetzt. »Ich habe sie seit gestern Abend überhaupt nicht gesehen.« Er fuhr herum. »Ist sie …«
Rasch vertrat ihm Pitt den Weg zum Ankleidezimmer und der Verbindungstür. »Nein, Sir. Noch nicht. Zwingen Sie mich nicht, Sie ans Bett zu fesseln. Das wäre für Sie äußerst unangenehm.«
»Ich habe damit nichts zu tun«, sagte Sorokine leise und ließ die Arme sinken. »Und die andere Frau habe ich auch nicht angefasst, das bedauernswerte Geschöpf.«
Pitt ging zur Eingangstür hinüber, drehte den Schlüssel um, steckte ihn in die Tasche und verließ den Raum durch die Verbindungstür,
die er von der anderen Seite verriegelte. Er wusste nicht, was er glauben sollte, musste sich aber an den Anhaltspunkten orientieren, die er hatte.
Trotz der Beschreibung, die ihm Dunkeld geliefert hatte, war er nicht auf das vorbereitet, was er sah. Minnie Sorokine lag auf dem Boden ihres Schlafzimmers. Ihr herrliches flamingorosa Abendkleid war zerrissen, ein scharlachroter Streifen zog sich über ihren Hals, und ihr aufgeschlitzter Unterleib war über und über mit Blut bedeckt. Ihm fiel auf, dass ihr Kopf in einem sonderbaren Winkel dalag, als habe man ihr das Genick gebrochen.
Ihm wurde übel, als er auf sie zutrat und sich neben die gebauschten Röcke kniete. Ohne jede Frage lebte sie nicht mehr, und an der Ursache ihres Todes konnte es nicht den geringsten Zweifel geben. Niemand konnte einen Schnitt durch die Kehle überleben, der nahezu von einem Ohr bis zum anderen reichte.
Sie fühlte sich kalt an. Damit hatte er gerechnet. Ihre Zofe war nicht im Zimmer gewesen. Vermutlich hielt sie sich taktvoll fern und kam lediglich, wenn ihre Herrin nach ihr verlangte. Auf jeden Fall würde er sie fragen.
Er zwang sich, genauer hinzusehen. Die Wunde am Hals war schlimmer als bei Sadie, doch der Unterleib war deutlich weniger aufgeschlitzt. Der Schnitt setzte höher an und zielte weniger offenkundig auf die Scham. Ihre Brüste waren vollständig vom Stoff ihres Kleides bedeckt. Hatte sich möglicherweise Sorokine bei seinem Anfall irgendwie daran erinnert, dass sie seine Frau war? Auch wenn Pitt noch nie mit Mördern zu tun gehabt hatte, die ihm sympathisch gewesen wären oder die er auch nur verstanden hätte, schien ihm diese Tat besonders widerwärtig und schmerzlich.
An Sadies Ermordung gab es nichts zu verstehen. Keiner der Männer hatte sie je zuvor gesehen. Aber hier! Kein Wunder, dass Cahoon Dunkeld vor Entsetzen und Kummer fast den Verstand verloren hatte. Zweifellos konnte Sorokine von Glück sagen, dass er ihn nicht umgebracht hatte. Wäre er weniger kräftig und in weniger guter körperlicher Verfassung gewesen, er wäre womöglich
ebenfalls tot und nicht einfach in seinem Zimmer eingeschlossen.
Pitt setzte sich auf den Teppich und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Auf jeden Fall musste er Verbindung mit Narraway aufnehmen, damit dieser so bald wie möglich in den Palast kam. Der Fall schien gelöst zu sein – auch wenn noch viel Beweismaterial zusammengetragen werden musste. Aber wozu eigentlich? Es war kaum vorstellbar, dass es wegen zweier Morde im Palast der Königin eine öffentliche Gerichtsverhandlung geben würde! Ließ sich die Sache wegen des Tatorts unter Umständen als Staatsgeheimnis behandeln? Oder würde man zu dem Ergebnis kommen, dass Julius Sorokine an unheilbarem Wahnsinn litt und ihn ohne Verhandlung wegschließen? Diese Lösung schien auf der Hand zu liegen.
Trotzdem musste die Beweiskette schlüssig sein. Kein Arzt mit einer Spur von Standesehre würde dem Mann Wahnsinn attestieren, wenn sich nicht beweisen ließ, dass dieser tatsächlich die beiden Frauen auf dem Gewissen hatte. Solange sich die Möglichkeit nicht ausschließen ließ, dass ein anderer als Täter infrage kam, lag gegen Sorokine nichts vor, denn er hatte sich in jeder Hinsicht einwandfrei verhalten, sogar auf moralischer Ebene, und einen Verstoß gegen Gesetze konnte man ihm bisher ebenso wenig nachweisen.
Andererseits ließe sich angesichts der Gesamtsituation
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