Die Tote von Buckingham Palace
Stücke gerissen.
»Ich nehme an, er liegt noch bewusstlos am Boden. Aber umgebracht habe ich ihn nicht, falls Sie das befürchten sollten«, sagte Dunkeld mit bitterem Lächeln und zuckte unter dem Schmerz zusammen, den er in seinem Kiefer empfand, als er den Mund verzog. Er fasste vorsichtig mit der Hand hin. »Ich glaube, ein Zahn wackelt.«
»Sie sollten wieder auf Ihr Zimmer gehen, Mr Dunkeld«, sagte Pitt. »Ich begleite Sie. Es ist sicher besser, wenn Sie Ihre Frau wecken. Ich fürchte, Sie werden ihr sagen müssen, was geschehen ist. Wünschen Sie, dass ich nach ihrer Zofe schicke und Tee oder Kognak bringen lasse? Hätten Sie gern eine der anderen Damen in ihrer Nähe? Zu wem hat sie eine engere Beziehung – zu Mrs Marquand oder Mrs Quase?«
Mit verständnislosem Blick fragte Cahoon: »Was?«
»Irgendjemand muss Ihre Frau von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen«, sagte Pitt noch einmal. »Wenn Sie sich dazu nicht imstande fühlen, kann das sicher jemand anders tun. Sofern das Ihr Wunsch ist, kann ich die Aufgabe übernehmen, doch bin ich sicher, dass es angesichts der Situation besser ist, wenn Mrs Dunkeld zuvor aufsteht und sich ankleidet.«
»Sie ist nicht Minnies Mutter«, sagte Cahoon ausdruckslos. »Rufen Sie, wen Sie wollen. Was passiert jetzt mit Julius?«
»Ich werde Mrs Quase bitten, Ihrer Frau beizustehen. Dann sehe ich nach Mr Sorokine. Gehen Sie jetzt auf Ihr Zimmer. Soll ich Ihnen jemanden schicken?«
»Nein, ich möchte lieber allein sein.« Dunkeld erhob sich schwankend und sehr schleppend. Pitt verwünschte den Umstand, dass er keinen Wachtmeister zur Verfügung hatte, der ihm bestimmte Aufgaben abnehmen konnte.
Er begleitete Dunkeld durch den still daliegenden Gang bis zu dessen Schlafzimmer, dann eilte er zu Hamilton Quases Zimmer und klopfte an die Tür. Niemand meldete sich. Vielleicht hatte Quase am Vorabend so viel getrunken, dass man ihn jetzt nicht
wach bekommen konnte. Pitt blieb nichts anderes übrig, als dessen Gattin aufzusuchen. Er tat das äußerst ungern.
Sie kam nach wenigen Augenblicken in einem seidenen Morgenmantel an die Tür. Ihr wunderbares Haar lag ihr offen um die Schultern.
»Ja?«, sagte sie besorgt in fragendem Ton.
»Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, Mrs Quase. Ich habe Mr Quase zu wecken versucht, aber …«
»Was gibt es?«, fragte sie.
»Ich bedaure zutiefst, Ihnen sagen zu müssen, dass Mrs Sorokine tot ist. Ihr Vater ist davon so aufgewühlt, dass er seiner Frau davon weder Mitteilung machen noch ihr Gesellschaft leisten könnte. Ich muss zu Mr Sorokine. Das kann eine Weile dauern. Darf ich Sie daher bitten, Mrs Dunkeld schonend von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen und ihr eine Weile Gesellschaft zu leisten?«
Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, und sie bedeckte den Mund mit der Hand. »Soll das … soll das heißen … dass man Minnie … umgebracht hat?«
»Ja. Leider.« Kaum hatte er das gesagt, als ihm klar wurde, dass er das nicht hätte tun sollen, solange sie stand. Sie schwankte und griff nach der Klinke, lehnte sich an die Tür, versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
»Wird es Ihnen zu viel?«, fragte er entschuldigend. »Soll ich lieber Mrs Marquand Bescheid sagen?«
»Nein, nein«, sagte sie. »Ich gehe sofort zu Elsa. Aber das ist doch verrückt. Ich sage nur rasch meiner Zofe, dass sie uns Tee machen soll. Dann gehe ich. Ich komme schon zurecht. Wie ganz und gar grauenhaft. Jemand muss völlig den Verstand verloren haben. Das ist schlimmer als jeder Albtraum.«
Er entschuldigte sich erneut, dankte ihr und suchte Sorokines Zimmer auf. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er zunächst nach der Leiche sehen sollte, dann aber ging ihm auf, dass zwischen den Räumen eine Verbindung bestehen musste, sodass der Mann, falls er wieder zu sich kam, ohne Weiteres die Möglichkeit hatte, Beweismittel zu vernichten oder gar die Leiche noch mehr
zu schänden. Pitt brauchte Hilfe, doch gab es niemanden, dem er traute oder der schon früher Zeuge solcher Tragödien gewesen war oder Menschen gesehen hatte, die auf so gewaltsame Weise zu Tode gekommen waren.
Er öffnete, ohne anzuklopfen, und trat ein.
Das Bild, das sich ihm bot, entsprach genau dem, was er nach Dunkelds Beschreibung erwartet hatte. Ein Stuhl lag zersplittert am Boden, ein Morgenrock, der vielleicht über dessen Lehne gehangen hatte, war auf dem Teppich ausgebreitet. Sogar das schwere Himmelbett war ein Stück beiseitegeschoben, als sei etwas mit Wucht
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