Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
aus der Stadtbahn. Vielleicht würde er einen klaren Kopf bekommen, wenn er das letzte Stück zu Fuß ging.
Er hatte lange wachgelegen und an das Gespräch mit Clara gedacht. Besser gesagt, an ihren abrupten Aufbruch. Wollte sie nicht über eine Heirat sprechen, weil sie in ihrer geschiedenen Ehe so unglücklich gewesen war? Oder war sie enttäuscht, weil er die Frage eher beiläufig und wenig romantisch ausgesprochen hatte? Inzwischen bereute er, dass er so achtlos vorgegangen war.
Es half nichts, er musste in Ruhe mit ihr sprechen, gleich heute Abend nach der Arbeit, nahm er sich vor.
An einem Straßenstand am Hackeschen Markt kaufte er eine Schrippe, die er im Gehen aß, und eine Zeitung. Eigentlich brauchte er sie gar nicht zu lesen, es war eine stete Wiederholung der Schlagzeilen des Vortags, nur zunehmend dramatischer und verzweifelter. Arbeiteraufstände, Straßenkämpfe, Hunger und Elend, ins Utopische wachsende Lebensmittelpreise, eine düstere Spirale ohne Ende …
An der Ecke Kaiser-Wilhelm- und Dircksenstraße sprach ihn jemand von hinten an. »Guten Morgen, Herr Kommissar. Darf ich mich Ihnen anschließen?«
Es war Sonnenschein.
»Natürlich. Guten Morgen auch.« Nach einigen Schritten fragte Leo vorsichtig: »Sagen Sie, Sonnenschein, am Sonnabend haben Sie wie alle anderen gearbeitet, nicht wahr?«
»Ja, Herr Kommissar.«
»Das ist Ihnen eigentlich nicht gestattet, oder?« Er sah den Kollegen prüfend von der Seite an.
»Nein.« Kurzes Schweigen. »Am Freitagabend gehe ich zu meinen Eltern, und wir essen gemeinsam, wie es die Tradition verlangt. Nur stehe ich am nächsten Morgen auf und gehe ins Präsidium, wenn ich Dienst habe.«
Leo setzte gerade zu einer Antwort an, doch Sonnenschein schien das Gespräch über religiöse Bräuche unangenehm zu sein, denn er fragte übergangslos: »Besitzen Sie einen Rundfunkempfänger?«
»Von meinem Gehalt?«, fragte Leo mit einem kurzen Auflachen, während sie beim Gehen unbewusst in den gleichen Rhythmus fielen. »Der Dollar steht heute bei 4,2 Billionen Papiermark.«
»Ich selbst habe auch keinen solchen Apparat, aber ein Onkel von mir arbeitet in einer Werkstatt, in der es einen gibt. Heute Abend wird ein Konzert gesendet, das man in diesem Apparat hören kann. Ist das nicht erstaunlich?«
»Ein Konzert?«
»Ja, es soll eine ganze Stunde dauern. Und das ist erst der Anfang. Im Vox-Haus gibt es jetzt einen Sender, so nennt man das wohl, und es werden demnächst regelmäßig Musikprogramme angeboten.« Er hielt inne. »Wenn das alles irgendwann vorbei ist«, er zog die prall gefüllte Brieftasche aus dem Mantel, »dann kaufe ich mir ein solches Gerät.«
»Sie lieben Musik?«, fragte Leo.
Sonnenschein nickte. »Ich habe ein Abonnement für die Oper. Stehplatz«, fügte er hinzu.
»Meinen Sie, dieser Rundfunk hat Zukunft? Es gibt doch Grammophone, Konzerte, Tanzkapellen, die überall zu hören sind …«, meinte Leo skeptisch.
»Eine Zeitung schreibt, es sei eine Modetorheit, aber das sehe ich anders«, sagte Sonnenschein und blieb abrupt stehen.Seine schüchterne Art war plötzlich verflogen, er sah Leo mit glänzenden Augen an und gestikulierte leidenschaftlich. »Stellen Sie sich vor, man kann damit ja nicht nur Musik senden. Nachrichten aus aller Welt wären sekundenschnell verbreitet. Oder wir – die Polizei – könnten den Rundfunk nutzen, wenn wir die Bevölkerung zur Mithilfe aufrufen wollen oder wenn irgendeine Gefahr droht, beispielsweise durch einen entflohenen Strafgefangenen.«
Leo war überrascht. Hinter Sonnenscheins unscheinbarem Äußeren verbarg sich ein kühner Geist. Gut, das alles klang nach Zukunftsroman, aber wer hätte vor hundert Jahren geglaubt, dass einmal Wagen ohne Pferde fahren würden?
»Sie sind ein Visionär, Sonnenschein. Die ersten Rundfunksendungen, und Sie denken schon an einen großen Siegeszug dieser Technik. Sie werden es weit bringen.«
Sie waren derart ins Gespräch vertieft, dass der gewaltige rote Bau der Burg ganz unvermittelt vor ihnen auftauchte.
In der Eingangshalle eilte ihnen ein gut gekleideter Beamter mit Monokel entgegen, den Leo flüchtig kannte, und stieß in seiner Hast mit Sonnenschein zusammen. Dieser trat rasch beiseite und entschuldigte sich.
Leo wusste von Clara, dass Magda Schott die Praxis mittags für eine Stunde schloss. Entsprechend hatte er seinen Besuch in die Mittagsstunde gelegt. Die Ärztin öffnete ihm die Tür, den Kittel aufgeknöpft, in der Hand
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