Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
arbeitest?«
»Nicht mehr.« Seine Stimme klang unwillig.
»Hast du Schwierigkeiten?«
»Das ist es nicht.«
Clara wartete ab, doch als er nichts weiter sagte, griff sie nach ihrem Mantel.
Er machte einen Schritt auf sie zu. »Bleib.«
»Wenn dir nicht nach Reden zumute ist, gehe ich lieber.«
»Nein, es ist nur …«
»Leo.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Es ist immer das Gleiche. Wenn du Rat in beruflichen Dingen brauchst, redest du bereitwillig darüber. Geht es um etwas Persönliches, muss ich es mühsam aus dir herausholen. Das ist anstrengend.«
Leo seufzte. »Zwei Frauen an einem Nachmittag.«
»Was soll das nun wieder heißen?« Clara setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander und wartete ab.
Nachdem er ihr von Ilse erzählt hatte und davon, wie er Marie aus dem Zimmer geschickt hatte, lächelte sie zu seinem Erstaunen. »Ilse wird selbstständig.«
»Sie ist doch eine erwachsene Frau.«
»Gewiss, aber sie muss ein eigenständiges Leben führen, ohne dich und die Kinder. Der erste Schritt war die Bekanntschaft mit Herrn Schneider, eine bittere Enttäuschung, aber immerhin. Nun beansprucht sie am Sonntag ein bisschen Zeit für sich. Das ist doch ihr gutes Recht.«
Leo ballte instinktiv die Fäuste. »Ja, aber –«
»Nein, Leo, kein Aber. Ihr müsst endlich aus diesem Dilemma herausfinden.«
»Das geht nicht ohne dich«, entgegnete er, trat wieder ans Fenster und sah hinaus »Du musst wissen, wo dein Platz in unserer Familie sein soll. Willst du eine Besucherin sein, die in diese Wohnung kommt und nach ein paar Stunden wieder geht, die mit mir in die Ferien fährt, solange Ilse auf die Kinder aufpasst, oder … meine Frau?« Jetzt war es heraus. Er hörte, wie sie leise aufstand und ihren Mantel nahm. Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Tante Jette muss als Kind sehr wild gewesen sein. Sie spielte Klavier, besaß aber nicht die Disziplin, um es darin zur Meisterschaft zu bringen. Meiner Mutter, die gern musizierte, mangelte es hingegen an Talent. Das Schicksal kann bisweilen ungerecht sein.
Tante Jette brachte häufig kranke Tiere mit nach Hause – Igel, Vögel, Maulwürfe, einmal sogar einen Fuchs. Der Zorn meiner Großmutter war ihr sicher, doch das hielt sie nicht davon ab, sich bald auch kranken Menschen zuzuwenden.
Die Entschlossenheit, mit der sie schon als Mädchen allen Widerständen begegnete, trug sicher dazu bei, dass sie sich später im Studium und Beruf durchzusetzen wusste. Dabei brachte sie bisweilen wenig Verständnis für Menschen auf, die nicht so entschlussfreudig und stark waren wie sie, doch habe ich dies nie als Charakterfehler empfunden. Vielleicht liegt es daran, dass ich so sehr an meiner Musik festhalte wie sie an ihrem Traum, Ärztin zu werden.
Als Junge habe ich Mutter stets bestürmt, sie solle mir von Tante Jette erzählen. Von meinem achten bis elften Lebensjahr habe ich sie nicht gesehen, weil sie auf Reisen im fernen Osten war.
Was hatte sie nach ihrer Rückkehr nicht alles zu berichten! Sie sprach von Elefanten und Tigern; von Frauen, die mit ihren verstorbenen Ehemännern verbrannt wurden; von Palästen und Menschen, die in unvorstellbarer Armut lebten. Sie beschwor die exotischen Gerichte, die sie gegessen hatte, so eindringlich herauf, dass ich die Gewürze wie Safran, Curry und Kardamom zu riechen meinte. Sie hatte die Chinesische Mauer mit eigenen Augen gesehen und war mit einem Boot über den Gelben Fluss gefahren, der bei den Chinesen Huang He heißt.
In Thailand hatte sie den Buddhismus näher kennengelernt und erste Erfahrungen im Meditieren gemacht. Ich hatte sie immer wieder bestürmt, es mir zu erklären, doch sie sagte nur, ich müsse irgendwann einfach damit beginnen, und zwar dann, wenn ich es wirklich wolle. Erklären könne man hier nichts. Sie war sehr zurückhaltend, was diesen Glauben anging, und wollte niemanden bekehren.
Allerdings zeigte sie mir ein paar Yoga-Übungen, die sie Asanas nannte, und ich verblüffte sie mit meiner jugendlichen Gelenkigkeit. Als ich ihr mühelos die sogenannte »Krähe« vorführte, eine für die meisten Menschen recht komplizierte Stellung, schenkte sie mir einen kleinen Anhänger mit einer stilisierten Lotosblume, den ich seither immer bei mir trage.
Ich muss den Stift beiseite legen, da mich die Erinnerungen überwältigen. Ein anderes Mal mehr.
8
MONTAG, 29. OKTOBER 1923
Leo hatte schlecht geschlafen und stieg zwei Haltestellen früher
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