Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
gemacht? Was ist mit dem Abtreibungsparagraphen?«
Die Ärztin zog die Augenbrauen hoch. »Ach, in diese Richtung denken Sie?«
»Ich denke in alle Richtungen.«
»Henriette Strauss war für die Abschaffung, so viel weiß ich.« Sie zögerte. »Was glauben Sie, wie oft sich Frauen in meine Praxis schleppen, die unter den Folgen einer verpfuschten Abtreibung leiden? Oder selbst Hand an sich gelegt haben? Viele sterben zu Hause, ohne einen Arzt gesehen zu haben, von denen erfahre ich meist gar nicht.«
»Ich muss gestehen, dass ich mich nie damit beschäftigt habe«, sagte Leo.
»Warum auch? Menschen aus Ihren Kreisen passiert so etwas gewöhnlich nicht.«
Ihre Stimme klang beinahe vorwurfsvoll, was ihn ärgerte.
»Frau Dr. Schott, ich stelle diese Fragen im Zuge meiner Ermittlungen. Das hat mit meinen persönlichen Ansichten gar nichts zu tun.«
»Natürlich, Herr Wechsler. Aber Polizei, Justiz und Politiker sind es doch, die wirkliche Veränderungen verhindern. Der Staat braucht Nachkommen, so sieht es aus. Vor allem nach dem Krieg. Arbeitskräfte müssen her.«
»Und neue Soldaten?«
»Das auch.« Dann hielt sie inne. »Verzeihen Sie, wenn ich ungerecht war. Clara hat mir erzählt, dass Sie sehr, wie soll ich sagen, liberal denken. Aber oft steht man einer Mauer gegenüber, einer Mauer aus Männern, die auf dem Althergebrachten beharren.«
»Wenn ich wieder zum eigentlichen Thema kommen dürfte – könnte der Kampf gegen Paragraph 218 ein Grund gewesen sein, Frau Dr. Strauss etwas anzutun?«
»Das klingt sehr unwahrscheinlich«, sagte die Ärztin. »Ganz ausschließen kann man es natürlich nicht.« Sie sah auf die Uhr. »Tut mir leid, gleich geht die Sprechstunde weiter.«
Als Leo aufstand und nach seinem Hut griff, fiel ihm noch etwas ein. »Sie sagten vorhin, Sie könnten keine Hilfe für ganze Tage einstellen. Wie wäre es denn mit einigen Stunden in der Woche?«
Nathan Sonenszajn schloss die Ladentür ab und schaute in beide Richtungen die Gormannstraße hinunter. Im koscheren Restaurant nebenan begann der Abendbetrieb. Er hatte seine Fleischwaren schon vor Stunden dort abgeliefert. Eigentlich wollte Kuba zum Essen kommen, doch war von ihm noch nichts zu sehen. Also ging Sonenszajn wieder hinein, schrieb einen Zettel und befestigte ihn mit einem Reißnagel von außen am Türrahmen. »Bin bei Moische, Vater.«
Sonenszajn setzte den Hut auf und begab sich in die Buchhandlung einige Häuser weiter, in der der alte Moische kaum sichtbar hinter Bücherstapeln an einem Schreibtisch hockte, dessen wacklige Beine jeden Augenblick unter der Last zusammenzubrechen drohten.
»Was machst du um diese Zeit hier, mein Freund?«, fragte der Buchhändler auf Jiddisch, als er den Fleischer erblickte. In dieser Gegend hörte man Jiddisch, Russisch und Polnisch; hier sprach niemand Deutsch.
»Ich warte auf meinen Jungen. Wollte sehen, was du Neues hereinbekommen hast.«
Moische zog eine Augenbraue hoch. »Hat dich dein Junge versetzt?«
»Ach was, er kommt gleich. Ich habe einen Zettel an die Tür gehängt.«
Moische stand auf und kramte in einem großen Pappkarton, der aufgeklappt auf einem Stuhl stand. »Neue Lieferung, heute angekommen.«
Sonenszajn fragte sich, wie sein Freund überhaupt noch etwas wiederfinden konnte. Das Durcheinander im Laden war unbeschreiblich. In ihrem Viertel gab es ein geflügeltes Wort, wenn jemand einen verlorenen Gegenstand suchte: »Wenn es nirgendwo ist, ist es bei Moische.«
Der alte Mann hielt ein in Leinen gebundenes Buch in die Höhe. »Alejchem, eine Sammlung lustiger Geschichten. Eine wunderbare Lektüre nach einem anstrengenden Arbeitstag.«
»Was soll das kosten?«, fragte Sonenszajn vorsichtig. Wenn man kaum das Brot bezahlen konnte, woher dann Geld für Bücher nehmen?
»Ich mache dir ein Angebot, mein Freund. Nur für dich.« Moische streckte ihm das Buch entgegen wie eine verlockende Frucht. »Achthundert Milliarden, ein anständiger Preis.«
Der Fleischer wiegte den Kopf. »Muss ich überlegen. Mava darf auf keinen Fall davon erfahren.«
Moische grinste, da er die energische Frau Sonenszajn nur zu gut kannte. Als er sah, wie sein Freund einen Blick zur Tür warf, sagte er aufmunternd: »Er wird schon kommen.«
Die Türglocke bimmelte und Kuba kam tatsächlich herein, mit gerötetem Gesicht, Schal um den Hals, den Hut tief in die Stirn gezogen. Er umarmte seinen Vater und begrüßte Moische respektvoll, wie es sich gehörte.
»Tut mir leid, ich
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