Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
aus dem auch das Ihnen sicherlich bekannte Rizinusöl gewonnen wird, ist aber etwa fünfundsiebzig Mal giftiger.«
Sonnenschein stenographierte mit. »Das ist enorm.«
»In der Tat. Alle Teile der Pflanze sind giftig – Wurzel,Blätter, Blüten, Samen, am meisten jedoch die Samen. Das hindert die Inder jedoch nicht daran, sie als Heilmittel zu verwenden, was bei richtiger Vorgehensweise auch möglich ist. Allerdings rate ich dringend davon ab. Man verwendet die Pflanze übrigens auch als Aphrodisiakum.«
»Wächst sie in Deutschland?«
»Das ist mir nicht bekannt, vielleicht in irgendeinem Botanischen Garten. Leider muss ich Sie enttäuschen, wir besitzen kein Exemplar davon. Aber ich kann Ihnen Abbildungen zeigen, wenn Sie sich einen Augenblick gedulden.«
Die Kriminalbeamten nickten, worauf der junge Botaniker verschwand.
»Der kennt sich aus«, sagte Sonnenschein anerkennend.
Schindler kam zurück und legte ein schweres, in grünes Leinen gebundenes Buch auf den Tisch, in dem ein Lesezeichen steckte. Er schlug es auf und deutete auf die farbige Abbildung.
Sie zeigte einen Zweig mit gefiederten Blättern, die an eine Mimose erinnerten, und hübschen rosa Blüten. Darunter sah man einen kleineren Zweig mit braunen Kapseln, aus denen rote Samen hervorschauten. Sie waren daneben vergrößert abgebildet.
»Die sehen aber schön aus«, bemerkte Sonnenschein und deutete auf die leuchtend roten, an einem Ende schwarz gefärbten Körner.
»Und ob. In manchen Ländern fertigt man Rosenkränze oder Gebetsketten aus den Samen. Daher stammt auch der deutsche Name ›Paternostererbse‹.«
»Sie meinen, es gibt Leute, die aus diesen giftigen Samen Schmuck herstellen?«
»Und welche, die ihn tragen«, erwiderte Schindler. »Es sollen schon Menschen bei der Herstellung gestorben sein, weil sie sich mit ihrem Werkzeug in den Finger gestochen haben. Das kommt aber selten vor. Sie können die Samenkörnertheoretisch sogar schlucken, ohne dass Ihnen etwas passiert.«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Walther und warf einen misstrauischen Blick auf das Bild.
»Gewiss. Aber sobald Sie die Samen
zerkauen
und schlucken …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
»Wer in Deutschland hat Zugang zu solchen Pflanzen?«, erkundigte sich Sonnenschein.
»Kaum jemand, würde ich meinen. Sollte jemand dieses Gift eingesetzt haben, und ich schließe aus Ihrem Besuch, dass dies der Fall ist, hat derjenige gewiss nur die Samen verwendet, da sie am giftigsten sind. Möglicherweise hat er sie von einer Reise mitgebracht oder über einen Handel für exotische Pflanzen bezogen.«
»Sie erwähnten eben, man müsse die Körner kauen«, sagte Walther forschend.
»Ja, erst dann entfalten sie ihre volle Wirkung.«
»Gibt es auch eine Möglichkeit, Bestandteile der Pflanze einzuatmen?«
Der Botaniker schaute ihn verwundert an. »Also, wenn ich jemanden mit der Paternostererbse töten wollte, würde ich sie oral verabreichen, der Geschmack ist angeblich ziemlich neutral. Aber« – er zögerte – »das ist eine schwierige Frage. Ich möchte Sie bitten, sich damit an einen Mediziner zu wenden. Da will ich lieber nichts Falsches sagen.«
»Vielen Dank, Herr Dr. Schindler, Sie haben uns sehr geholfen.« Die Beamten erhoben sich. »Bei weiteren Fragen würden wir gern auf Sie zurückkommen.«
»Jederzeit.« Schindler fiel noch etwas ein. »Ich habe mal eine Geschichte aus Indien gehört. Wenn ein Bauer einem anderen schaden will, kommt es vor, dass er geschälte Samenkörner der Paternostererbse spitz zufeilt und dem Vieh des Rivalen in den Körper sticht. Die Tiere verenden daran. Auch das könnte ein Weg sein, das Gift in den Körper zu befördern.«
Während er sie zur Tür brachte, sagte Schindler: »Nachdem ich über diese hübschen Samenkörner so viel Böses erzählt habe, hier noch eine interessante Tatsache: In Indien verwendet man sie auch als Edelsteingewicht. Fast jedes Samenkorn wiegt ziemlich genau eins Komma fünfundsiebzig Gramm. Sogar das Gewicht des berühmten Koh-i-noor-Diamanten wurde ursprünglich mit den Samen der Paternostererbse ermittelt. Wenn Sie also bei der nächsten Einladung einmal mit Ihrem Wissen glänzen wollen …«
Als er den Flur im Pharmakologischen Institut entlangging, warf Leo einen Blick aus dem Fenster. Hoffentlich war Sonnenschein mittlerweile zu Hause, es war später Nachmittag, der Schabbat hatte bereits begonnen.
Professor Heffter empfing ihn schwungvoll. »Jetzt kommt der
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