Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
aufgefallen.«
»Aber sie hatte die Flasche offenbar schon lange nicht mehr benutzt.«
»Ich werde die Angehörigen bei Gelegenheit danach fragen.« Leo machte sich eine Notiz.
Es klopfte, und Fräulein Meinelt steckte den Kopf zur Tür herein. »Von Professor Heffter.« Sie reichte ihnen einen Umschlag, den Leo rasch entgegennahm.
»Danke, Fräulein Meinelt, vielleicht haben Sie gerade meinen Tag heller gemacht.«
»Gern geschehen.«
Die Kollegen sahen gespannt zu, als Leo den Umschlag öffnete. Alle waren sich der heiklen Lage bewusst. Wenn sie nicht bald etwas vorzuweisen hatten, würde die Familie möglicherweise Schwierigkeiten machen.
»Es gibt anscheinend extrem wenige Substanzen, die genau diese Symptome hervorrufen«, erklärte Leo nach einem Blick auf den Bericht. »Welche Stoffe ausgeschlossen werden können, wissen wir bereits – Kohlenmonoxid, Blausäure, Alkohole. Sie alle kommen nicht in Frage. Der Professor schreibt: ›Da wenig Zeit für eingehendere Nachforschungen bleibt, möchte ich auf die Gruppe der Toxalbumine hinweisen. Dabei handelt es sich um Proteine, die in Pflanzen vorkommen und teilweise als hochgradig giftig einzustufen sind. Sie wurden erstmals 1890 von den Wissenschaftlern Brieger und Fraenkel beschrieben.‹« Leo übersprang einige Zeilen. »›Derartige Substanzen, deren Einnahme die unterschiedlichsten körperlichen Auswirkungen haben kann, kommen unter anderem in den folgenden Pflanzen vor: der Purgiernuss, dem Wunderbaum und der Paternostererbse.‹«
Beim letzten Wort ging ein Raunen durchs Zimmer.
Nathan Sonenszajn machte sich Sorgen. Er stand in seiner Fleischerei, die Schürze umgebunden, die Theke sorgfältig sauber gewischt. Im Laden war es voll, wie immer am Freitagmorgen, wenn die Frauen für den abendlichen Schabbateingang einkauften. Der Schochet hatte das Fleisch frisch angeliefert, Sonenszajns Frau Mava hatte es ansprechend in der Auslage angeordnet. Eigentlich hätte er sich über den großen Kundenzulauf freuen können, doch an diesem Morgen war ihm nicht ganz wohl. Ihm gingen die Männer nicht aus dem Sinn, die er auf dem Weg von seiner Wohnung hierher bemerkt hatte.
Es waren vier oder fünf gewesen, auffallend gut gekleidet, und sie hatten Passanten angesprochen – allerdings nur jene,die nicht jüdisch aussahen. Wer einen schwarzen Mantel oder einen langen Bart oder gar Schläfenlocken trug, wurde nicht beachtet. Die Männer verteilten Flugblätter an die Leute, die sie angesprochen hatten.
Nun war es für Sonenszajn nach den Erfahrungen seines Lebens eher angenehm, von den
Gojim
ignoriert zu werden. Doch diese Männer mit den Flugblättern behagten ihm nicht. Wenn sie für irgendwelche Waren werben wollten, konnten sie das überall tun. Aber es sah nicht danach aus, als hätten sie etwas zu verkaufen. Und wenn sie mit Juden keine Geschäfte machen wollten, war nicht einzusehen, weshalb sie sich ausgerechnet dieses Viertel ausgesucht hatten. Außer natürlich, sie hatten es auf die Juden abgesehen.
Wenngleich das Leben oft schwer gewesen war, hatte er Berlin doch stets als Hafen empfunden, als Ort, an dem man ihn vielleicht nicht mit offenen Armen empfangen, an dem er aber eine Familie gegründet und sich eine kleine Existenz aufgebaut hatte. Das war schon viel. Sehnsucht nach Lodz überkam ihn äußerst selten, und sie erlosch, sowie er sich an die Verfolgungen erinnerte, die er dort hatte erdulden müssen. Hier im Scheunenviertel hatte er ein Stück Heimat gefunden, in dem er ohne die Bedrohungen der Vergangenheit leben konnte.
Erst als ihn seine Kundin seltsam anschaute und ihren Wunsch wiederholte, merkte Nathan, dass er eben in Gedanken seinen Laden verlassen hatte. Er entschuldigte sich und verdrängte die Erinnerung an die Männer in den gut geschnittenen Anzügen.
Wenn Kuba heute Abend zum Essen kam, würde er ihm von ihnen erzählen. Vielleicht wusste der Junge, was dahintersteckte.
Die vier Kriminalbeamten sahen einander wie elektrisiert an. »Kein Gebet, wie Lehnhardt schon sagte.« Leos Worte hallten im Raum wider.
»Von dieser Erbse habe ich noch nie gehört«, bemerkte Berns.
»Ich auch nicht«, sagte Sonnenschein. »Der Professor kann uns sicher mehr darüber sagen. Oder ein Botaniker von der Universität.«
»Vielleicht war es Zufall«, meinte Walther. »Meint ihr wirklich, sie hat im Sterben erkannt, dass sie vergiftet worden war, und es ihrem Neffen auf diese Weise mitgeteilt?«
Leo hob die Schultern. »Es ist
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