Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
meinst also, der junge Lehnhardt hätte sich auffällig verhalten?«
»Seine Hand hat richtig gezittert. Ich bin mir sicher, dass er den Schrieb zuvor schon einmal gesehen hatte«, erklärte Robert Walther entschieden. »Aber er hat es abgestritten.«
Leo schaute nachdenklich aus dem Fenster in den grauen Morgen. Für ihn war er nicht ganz so grau, nachdem er sich mit Clara ausgesprochen hatte, doch für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit. Sie mussten endlich mit den Ermittlungen weiterkommen.
»Was könnte das bedeuten? Entweder: Er weiß von einem Liebhaber der Toten, will aber aus irgendeinem Grund nicht darüber sprechen. Oder: Der Brief stammt von ihm selbst. Dann gibt es mehrere Möglichkeiten – die Sache hatte sich geklärt und ist ihm jetzt unangenehm, oder aber Dr. Strauss ist gestorben, während die beiden im Streit lagen, und er fürchtet, man könne ihn verdächtigen.«
Walther schüttelte den Kopf. »Leo, das passt alles nicht zusammen. Er ist ihr Neffe. Wozu dann dieses Theater? Er kann ihr doch Briefe schreiben, so viel er will. Oder glaubst du, er war in seine eigene Tante verliebt?«
»Das nun nicht gerade.« Leo drehte einen Bleistift zwischen den Fingern. »Trotzdem, wir haben uns zu wenig um die Familie gekümmert. Die Geschichte mit den medizinischen Versuchen hat bislang nichts erbracht, ebenso wenig die Ermittlung in der Beratungsstelle. Natürlich müssen wirdas weiterverfolgen, aber du weißt, wie viele Verbrechen im engen und weiteren Familienkreis geschehen.«
»Gut«, sagte Walther. »Ein bisschen merkwürdig fand ich übrigens Frau Lehnhardts Auftreten. Du hast erzählt, sie sei bei eurem ersten Besuch völlig zusammengebrochen.«
»Ja, man musste sie aus dem Zimmer führen.«
»Davon hat sie sich bemerkenswert gut erholt. Sie trug Trauer, wirkte ernst, aber sehr entschieden und selbstsicher. Natürlich geht jeder anders mit seiner Trauer um …«
»Bleiben wir noch einen Moment bei dem Brief. Angenommen, der junge Lehnhardt selbst hat die Zeilen an seine Tante geschrieben. Dann kommt die Polizei ins Haus und legt sie ihm vor. Er leugnet, den Brief zu kennen, verrät sich aber durch seine Nervosität. Wir gehen davon aus, dass er seine Verfasserschaft vor uns verbergen will. Was aber, wenn es ihm gar nicht um uns, sondern um seine Mutter geht?«
»Du meinst, er wollte nicht, dass sie erfährt, von wem der Brief stammt?«
»Das wäre doch denkbar.«
»Aber wieso? Es gab keine Feindschaft zwischen den Schwestern, das hat jedenfalls niemand erwähnt.«
»Überleg mal, wie unterschiedlich die beiden waren. Eine Ärztin, weit gereist, unabhängig, erfolgreich im Beruf – und auf der anderen Seite …«
»… eine wohlhabende Ehefrau mit gehobener gesellschaftlicher Stellung, Freundeskreis, Ehemann und einem Sohn, der ein vielversprechender Musiker ist«, ergänzte Walther. »Leo, da sehe ich kein Motiv.«
Sonnenschein kam herein und stellte seine Aktentasche ab. »Verzeihung, Herr Kommissar, ich bin aufgehalten worden. Eine Schlägerei vor einem Lebensmittelgeschäft, die Schupos hatten die Straße abgesperrt.«
Leo schaute den jungen Kollegen an. »Sonnenschein, wir haben gerade überlegt, ob das Motiv für den Mord dochinnerhalb der Familie zu finden sein könnte. Was halten Sie davon?«
»Ich gebe zu, die Ermittlungen im Krankenhaus haben bisher nicht viel erbracht. Darauf hatte ich anfangs gesetzt«, erklärte Sonnenschein. »Dennoch bin ich nach wie vor der Ansicht, dass der Täter – oder die Täterin – über ein spezielles Wissen verfügen muss. Bei einem so seltenen Gift sind gewisse Kenntnisse in Medizin, Chemie oder Botanik wohl unverzichtbar.«
»Dann müssen wir alle Personen, mit denen wir bisher gesprochen haben, noch einmal daraufhin überprüfen.«
Es klopfte, und Berns trat mit einem Umschlag in der Hand ein, den er Leo mit zufriedener Miene auf den Tisch legte. »Die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung.«
»Alles nur Parfum«, erklärte Leo, als er die Unterlagen überflogen hatte. Sie hatten sämtliche Parfumflaschen aus der Wohnung der Toten untersuchen lassen. Dann wanderte sein Blick ein Stück tiefer: »Und bei der Messingflasche, die wir aus dem Schlafzimmer mitgenommen haben, handelt es sich um einen Rosenwassersprenger. Das lässt sich an den getrockneten Spuren chemisch nachweisen.«
»Rosenwasser?«
»Ja, das erklärt den Geruch in der Wohnung. Der ist uns doch schon beim ersten Mal
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