Die Tote von Harvard
die Berge unbeantworteter und oft ungeöffneter Post immer höher werden, in der Hoffnung, irgendwann überkäme einen ein plötzlicher Schub, in dem man in einem Ruck »klar Schiff machte«. Oder man war wie Janet und Kate und blieb dran – hatte eine aggressive Einstellung zu den lästigen Arbeiten: ging auf sie los und schaffte sie sich vom Hals. Aber auch hier wunderte sich Kate. Janet war nicht auf dem laufenden mit ihren Briefen, die Kate gerade sichtete, während Bill ihr auf die Finger sah. Bitten um Empfehlungsschreiben, Gutachten für Doktoranden lagen, als Janet starb, seit Wochen unbeantwortet da. Kate nahm an, daß das nicht typisch für sie war. Vielleicht war der Arbeitsdruck in Harvard noch ungewohnt und zuviel für sie gewesen. Sich in neue Verhältnisse einzufinden, brauchte immer seine Zeit.
Als Kate die Schreibtischschubladen aufzog, entdeckte sie nichts, was darauf hingewiesen hätte, daß Janet mit der Vorbereitung einer größeren neuen Arbeit beschäftigt war. Wissenschaftler, besonders solche von Janets Ruf, stecken normalerweise immer mitten in ir-126
gendeinem neuen Projekt. War es denkbar, daß jemand Janet ermordet hatte, um eine Arbeit, an der sie gerade saß, an sich zu reißen und als seine auszugeben? Kate hielt das für unwahrscheinlich, aber ganz ausschließen wollte sie es nicht.
Es wäre immerhin der erste Hinweis auf ein Motiv das nichts mit Moon oder Luellen zu tun hatte. Und war Howard Falkland nicht alles zuzutrauen?
Kein Brief war nach Janets Tod gekommen. Wahrscheinlich waren diese an ihre Familie weitergeleitet worden, nachdem man ge-prüft hatte, ob sie irgendwelche Hinweise enthielten, die mit Janets Tod in Zusammenhang stehen könnten. Bill bestätigte es, als sie ihn danach fragte. Er stand brummig neben ihr. Offenbar brauchte er ein paar Hätscheleinheiten. Kate tat ihm den Gefallen. Ob es viele Bei-leidstelegramme gegeben habe, fragte sie teilnahmsvoll.
»Ja«, sagte Bill, froh, wieder reden zu können. »Sehr viele.« Er habe Danksagungskarten drucken lassen, sehr schöne, auf Büttenpa-pier, und seine Frau habe die Adressen geschrieben. Drauf gestanden habe: »Hiermit drückt die Familie von Janet Needham Mandelbaum ihren aufrichtigen Dank für das ihr ausgesprochene Beileid aus«, oder so ähnlich. Kate schüttelte es innerlich. Gedruckte Botschaften waren ihr ein Greuel, aber sie gab sich immerhin Mühe zuzugeste-hen, daß sie manchmal, wenn es sehr viele Briefe zu beantworten galt, ganz zweckmäßig waren.
»Wie viele Schreiben waren es?« fragte Kate. »Nur so ungefähr.«
»Oh, viele«, sagte Bill. »Fünfzig vielleicht. Das sagt Betty jedenfalls. Aber sie hat sich schon immer leicht verzählt.«
Freunde und Bekannte Bills hatten ihm persönlich geschrieben, um ihr Mitgefühl dafür auszusprechen, daß er seine Schwester auf so entsetzliche Weise verloren hatte. Die meisten Schreiben waren jedoch einfach an »Die Familie Janet Mandelbaums« gerichtet. Darin zeigte sich die Hilflosigkeit all derer, vor allem Janets früherer Kollegen und Studenten, die gern ihr Beileid aussprechen wollten, aber nicht recht wußten, wem. Kate selbst wäre es nie eingefallen, an Janets Familie zu schreiben, die diese kaum je erwähnt hatte.
»Wie ich gehört habe, hat Janet alles ihren Nichten und Neffen hinterlassen«, sagte Kate.
»So ist es.« Bill war eindeutig verärgert über diesen letzten Willen seiner Schwester. »Ich versteh nicht, warum sie sich entschlossen hat, eine Generation zu überspringen…«, brummelte er. »Nick meinte, sie hätte uns zwei nicht leiden können. Und als Kinder haben wir 127
ihr das Leben wirklich schwer gemacht. Na, aber es bleibt ja in der Familie. Immerhin hat sie gewußt, daß Blut dicker ist als Wasser.«
»Welches Wasser?« fragte Kate.
»Huh?« Bill sah verwirrt drein, fast ängstlich.
»Das Wasser, das dünner ist als Blut. Was ist das für ein Wasser?«
»Was? Na ja, halt Wasser! Das Gegenteil von blutsverwandt.«
»Dann sind also Freunde durch Wasser miteinander verbunden?«
»Eine so dämliche Frage können nur Professoren stellen«, sagte Bill. »Was mit dem Ausdruck gemeint ist, weiß doch jeder.«
»Entschuldigung«, sagte Kate. »Mir war das noch nie klar. Also, auf ins Schlafzimmer«, fügte sie hinzu und ließ Bill stehen, der ihr nachstarrte, wobei er, wie Kate hoffte, keine gewalttätigen Gedanken wälzte.
Die Polizei hatte das Bett auseinandergenommen und nicht wieder zusammengebaut, wofür Kate dankbar
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