Die Tote von Harvard
war. So, wie sie Bill einschätzte, mußte er beim Anblick eines Bettes einfach Witze reißen.
Die Durchsuchung des Bettes hatte nichts ergeben. Die Durchsuchung des Arzneischranks ebensowenig. Neben den üblichen Dingen enthielt er eine noch fast volle Flasche Schlaftabletten. Am Datum sah Kate, daß Janet sie sich erst kurz vor ihrem Tod hatte verschrei-ben lassen. Abgesehen vom Bett war nichts im Schlafzimmer angerührt worden. Kates Scherzrätsel hatte Bill eindeutig einen Dämpfer versetzt. Er stand verdrossen neben ihr und verströmte Ungeduld.
Auf dem Nachttisch lag ein Buch. Nur eins. Wiederum wunderte sich Kate. Neben dem Bett einer Literaturprofessorin hätte wohl jeder ein ganzes Sammelsurium von Büchern erwartet – wenn schon nicht neuere Romane oder Science-fiction, so doch zumindest etwas Literaturtheoretisches. Das einzige Buch auf dem Nachttisch sah neu aus. Kate nahm es hoch. Es war ein Band aus der Reihe kritischer Ausgaben des Norton Verlags mit dem Titel ›George Herbert and the Seventeenth Century Religious Poets‹. Aus irgendeinem Grund hatte Janet den Band erst vor kurzem erhalten, obwohl er, wie Kate sah, schon 1978 erschienen war. Vielleicht hatte Janet ihn für eins ihrer Seminare im Sinn gehabt. Kate ließ den Daumen über die Blätter fahren, und das Buch öffnete sich auf Seite 69. Der Buchrücken war an dieser Stelle leicht geknickt, so daß das Buch, wenn es auf dieser Seite aufgeschlagen wurde, flach liegenblieb. Nur ein Gedicht stand auf dieser Seite. Es hieß ›Liebe‹ (III) 1. Die hochgestellte Zahl verwies auf eine Fußnote. Kate ließ ihre Augen zum Fuß der Seite wan-128
dern, wobei ihr nicht entging, daß Bill zu explodieren drohte. Die Fußnote war ein Bibelzitat: »Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich auf schürzen und wird sie zu Tisch setzen und zu ihnen treten und ihnen dienen« (Lukas 12,37). Kate überflog das darüber stehende Gedicht. Irgendwann hatte sie es schon einmal gelesen. Die (III) bedeutete wahrscheinlich, daß Herbert drei Versionen geschrieben hatte.
Die Liebe hieß mich eintreten, aber meine Seele wich zurück Beladen mit Staub und Sünde war sie
Aber die weise Liebe, als sie mein Zögern sah vor dem Glück, als rief es von innen zu mir, flieh!
fragte mich sanft und trat zu mir hin
»Was quält deinen Sinn?«
»Einen Gast sah ich gern«, antwortete ich,
»der es wert ist hier zu sein.«
Die Liebe sagte,
»du bist er, komm nur herein, mußt nimmer flehn«
»Ich, der Unfreundliche, Undankbare?
Ach du Holde, nein
Ich wag nicht dich ansehn.«
Die Liebe nahm meine Hand, und lächelnd antwortete sie mir
»Wenn nicht ich, wer gab deine Augen dir?«
»Wahr, bei Gott, aber ich habe sie verdorben, laß meine Scham hingehen in Satans Nischen«
»Dann weißt du nun«, sagte die Liebe,
»wer die Freude dir nahm?«
»Ach du Holde, dann will ich dir nun auftischen.«
»Setze du dich und koste meine Speisen. Dein Grübeln laß.«
So setzte ich mich und aß.
»Was in Teufels Namen gucken Sie denn so lange an?« fragte Bill schließlich.
»Ein Gedicht«, sagte Kate. »Von einem Dichter, über den Janet viele Vorlesungen hielt. Möchten Sie es lesen?«
Bill warf einen kurzen Blick darauf. »Ich versteh nicht, worum’s geht«, sagte er. »Gedichte sagen mir nichts.«
»Es wurde vor dreihundert Jahren geschrieben«, sagte Kate.
»Warum soll man sich dann heute noch damit abgeben? Was soll 129
es denn mit Janet zu tun gehabt haben?«
»Tut mir leid, daß ich Sie aufhalte«, sagte Kate. »Wollen Sie nicht schon in der Küche zu packen anfangen, oder im Wohnzimmer? Ich brauche hier nur noch einen kleinen Moment.« Aber Bill hatte nicht die Absicht, von ihrer Seite zu weichen.
»Wollen Sie auch die Schubladen des Sekretärs durchsehen?«
fragte er. »Da hat sie wahrscheinlich ihren Schmuck aufbewahrt.«
»Nein, machen Sie das doch bitte. Und diesmal guck ich Ihnen über die Schulter.« Froh, etwas zu tun zu haben, fiel Bill mit beängstigender Energie über die Schubladen her. Kate sah ihm eine Weile zu.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich dieses Buch mitnehme?«
fragte sie Bill, der gerade Janets Schmuckschatulle habhaft geworden war. »Ich hätte gern eine Erinnerung an Janet. Ich erstatte Ihnen natürlich, was es gekostet hat. Janets ganzer Besitz gehört ja Ihnen; deshalb ist es nur korrekt, wenn ich Ihnen das Geld gebe. An dem Buch selbst wird Ihnen wohl kaum
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