Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
folgte die Einladung, das Weihnachtsfest auf Higher Barton zu verbringen, und Mabels Eltern ließen keinen Zweifel daran, dass sie in Arthur Tremaine ihren künftigen Schwiegersohn sahen. Den Tremaines waren verstaubte Standesdünkel fremd, es schien keine Rolle zu spielen, dass Mabel bürgerlicher Herkunft war. Immerhin war ihr Vater der Direktor eines gut gehenden Bankhauses, und Mabel würde eine großzügige Mitgift in die Ehe einbringen.
An einem kalten und stürmischen Tag Ende November stand Abigail plötzlich vor der Tür. Bill, ihr Mann, war zwei Monate zuvor einem Schlaganfall erlegen, aber so freundlich gewesen, vorher noch ein Testament aufzusetzen, durch das Abigail sein gesamtes Vermögen erbte, das sich auf mehrereMillionen US-Dollar erstreckte. Ihre Trauer über Bills Tod hielt sich in Grenzen, und ihre grünen Augen strahlten vor Unternehmungslust. Sie war zu einem Besuch nach England gekommen und quartierte sich sofort bei Mabel ein.
„Was soll ich mit dem ganzen Geld mitten auf dem Land in Texas?“, sagte sie und lachte. „Ich will London mit allen Sinnen erleben! Es fühlen, riechen und schmecken, obwohl es in England natürlich viel spießiger zugeht als in Amerika.“
Mabel konnte ihr stundenlang zuhören, wenn sie von Texas erzählte und den unvorstellbaren Strecken, die man zurücklegen musste, um den nächsten Nachbarn zu besuchen. Die Städte Dallas und Houston hatte Abigail mindestens einmal im Monat besucht und zweimal im Jahr New York. Natürlich hatte Bill über ein eigenes Flugzeug verfügt. Abigail trauerte der vergangenen Zeit jedoch nicht nach, sondern stürzte sich ins Londoner Nachtleben, wo sie bald Mittelpunkt einer erlesenen Gesellschaft wurde. Manchmal begleitete Mabel sie, aber sie konnte den wilden Partys, auf denen der Champagner in Strömen floss, und den ausgelassenen Tänzen zu lauten Beats nichts abgewinnen. Abigail hingegen verstand nicht, warum Mabel Tag für Tag in das muffige Krankenhaus ging, anstatt das Leben zu genießen. Die Arbeit als Krankenschwester war für Mabel jedoch längst mehr als ein Beruf – es war wie eine Berufung, Menschen zu helfen und ihre Leiden zu lindern.
Es war selbstverständlich, dass Abigail Mabel und ihre Eltern über Weihnachten zu den Tremaines nach Cornwall begleitete. Zuerst hatte Mabel Bedenken gehabt, ob sich ihre lebenslustige Cousine mit den eher konservativen und ruhigen Tremaines verstehen würde. Abigail jedoch nahm Arthurs Eltern mit ihrem angeborenen Charme bereits am ersten Abend völlig für sich ein. Auch Arthur verstand sich gut mit ihr, obwohl Abigaildas genaue Gegenteil von Mabel war. Mabel dachte daran, dass dies wohl das letzte Weihnachtsfest auf Higher Barton als Gast war, denn im kommenden Sommer würde Arthur Sandhurst verlassen und auf den Familiensitz zurückkehren. Dann stand ihrer gemeinsamen Zukunft nichts mehr im Wege.
Das neue Jahr begann für Mabel jedoch mit einer Enttäuschung. Arthur kam nur noch selten nach London, sicher hatte er so kurz vor seinem Abschluss der Akademie wenig Freizeit, auch seine Briefe wurden seltener. Abigail ging nach wie vor regelmäßig aus, sie bat Mabel aber nicht mehr um ihre Begleitung. Oft war sie ganze Sonntage unterwegs und Mabel saß, wenn sie keinen Dienst hatte, zu Hause, denn Arthur konnte es nicht möglich machen, sich mit ihr zu treffen. Mabel sagte sich, dass es ja nur noch wenige Monate wären, dann würde sie jeden Tag, und auch die Nächte, an Arthurs Seite verbringen.
Der Tag von Arthurs Entlassung aus der Akademie rückte näher, aber weder Mabel noch ihre Eltern hatten bisher eine Einladung zum Abschlussfest in Sandhurst erhalten. Dann, eine Woche vor dem Termin, besuchten Lord und Lady Tremaine Mabels Eltern. Sie kamen unangemeldet, was für sie unüblich war, und Mabel, die an diesem Nachmittag frei hatte und ihnen die Tür öffnete, erkannte sofort, dass etwas geschehen sein musste.
„Geht es Arthur gut?“, fragte sie hastig. „Es ist ihm doch nichts passiert?“
„Nein, nein, aber bitte lassen Sie uns mit Ihren Eltern allein, Miss Mabel“, sagte Lord Tremaine, und man sah ihm an, wie unangenehm ihm der Besuch war.
Angespannt saß Mabel auf ihrem Bett und wartete, dass man sie nach unten rufen würde. Tausend Gedanken schossen durch ihren Kopf. Vielleicht war Lord Tremaine gekommen,um in Arthurs Namen die Eltern um ihre Hand zu bitten? Sie lebten doch nicht mehr im Mittelalter – warum war Arthur nicht selbst gekommen und hatte zuerst sie
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