Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
Jahren geweint hatte, waren unvorstellbar. Lediglich in den letzten Wochen, seit Sarah in der Stadt aufgetaucht war, hatte sie ihre Sorgen für einige Stunden vergessen können und manchmal sogar gelächelt.
„Du musst endlich damit anfangen, dein eigenes Leben zu leben“, hatte Sarah gesagt, nachdem Rachel ihre Geschichte erzählt hatte. „Es ehrt dich, dass du deine Geschwister nicht im Stich lassen willst, dennoch musst du auch an dich denken.“
Über diese Worte hatte Rachel bitter gelacht. An dem trüben Tag vor fünf Jahren hatte sie an sich gedacht. Sie, Rachel, hatte nach Truro fahren wollen, obwohl ihre Mutter meinte, das Wetter sei für einen Ausflug zu schlecht. Rachel sollte nach Ostern ihr Geschichtsstudium an der Universität in Exeter beginnen und wollte sich vorher noch ein paar halbwegs schicke Klamotten kaufen, und die gab es eben in Cornwall nur in den Geschäften Truros, der größten Stadt der Grafschaft.
„Bitte, Mama, komm mit“, hatte Rachel gebettelt. „Du hast einen so guten Geschmack, was Kleider angeht. Da ich nicht viel Geld habe, muss ich sehen, dass ich günstige, aber gute Sachen bekommen, die ich miteinander kombinieren kann.“
Mrs Wilmington hatte schließlich nachgegeben und eine Nachbarin gebeten, sich um die drei jüngeren Kinder zu kümmern, wenn sie aus der Schule kämen. Rachel hatte lachend bemerkt: „Ach, bis dahin sind wir doch längst wieder zurück!“
Rachels Mutter kehrte niemals wieder in das rote Backsteinhaus zurück, und Rachel erst nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt – als Krüppel. Ihr Studium konnte sie vergessen, nicht nur weil sie durch den Unfall den Beginn des Semesters verpasst hatte, nein, der Vater machte ihr unmissverständlich klar, sie hätte ab sofort den Haushalt zu führen.
Als Rachel das verrostete Gartentürchen aufstieß, quietschte es vernehmlich, und ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Bereits hier draußen hörte sie das Gebrüll der Zwillinge, die sich wieder einmal darüber stritten, wer die Playstation benutzen durfte. Die Haustür stand offen, und aus dem Wohnzimmer brüllte der Fernseher in einer Lautstärke,die Rachel in den Ohren schmerzte. Als sie die Küche betrat, saß ihr Vater am Küchentisch, eine halbvolle Bierflasche vor sich, und stierte ihr mit glasigen Augen entgegen.
„Ach, Mylady geruhen auch mal, nach Hause zu kommen.“ Obwohl er mit dem Trinken bereits begonnen hatte, als Rachel am Nachmittag das Haus verlassen hatte, war in seiner Stimme kein Lallen zu hören. Denzil Wilmington war seit Jahren daran gewöhnt, regelmäßig und viel Alkohol zu konsumieren.
„Ich mache gleich das Essen, Pa.“
„Wird auch Zeit, wir haben Hunger, und es ist schon nach acht.“ Denzil Wilmington leerte die Bierflasche mit einem Schluck und rülpste dann vernehmlich, wobei Speicheltropfen aus seinem Mund flogen und sich über den Tisch verteilten.
Rachel ging zum Kühlschrank und nahm einen Topf mit Gemüsesuppe heraus. Immer wenn sie Theaterprobe hatte, kochte sie am Abend vorher so viel, dass es auch für den folgenden Abend ausreichte. Nie wäre ihr Vater oder eines ihrer Geschwister aber auf den Gedanken gekommen, sich das Essen selbst warm zu machen. Rachel entzündete das Gas, stellte den Topf auf die Flamme, erst dann zog sie ihre Jacke aus. Ihr Blick irrte durch den Raum. Am Mittag hatte sie das Geschirr gespült und aufgeräumt, doch ihre Geschwister hatten sich nach der Schule Fish and Chips geholt, diese nur halb aufgegessen, und der Rest lag verteilt auf dem Tisch und auf dem Fußboden. Leere, benutzte Gläser standen herum, und irgendjemand hatte wohl mit der Ketschupflasche hantiert und die Schranktür mit roter Soße bekleckert. Seufzend machte Rachel sich daran, die kalten, fettigen Pommes vom Boden aufzulesen. In diesem Moment polterten zwei zwölf-jährigeJungen in die Küche, die einander wie ein Ei dem anderen glichen.
„Gordon lässt mich nicht spielen!“, schrie der eine und wurde prompt von seinem Bruder in die Seite geboxt.
„Stimmt gar nicht, Pip hat die Playstation eine ganze Stunde gehabt, jetzt bin ich dran!“
„Habt ihr eure Hausaufgaben gemacht?“, fragte Rachel mit seinem Seufzer.
„Nö, wir haben nichts auf, ist doch Wochenende“, gab Philipp, von allen nur Pip genannt, zurück. „Du weißt aber auch gar nichts. Wann gibt’s Essen, ich hab’ Kohldampf.“
Seit Jahren daran gewöhnt, wie eine Dienstmagd behandelt zu werden, ließ Rachel sich nichts
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