Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
sich rechts und links der Nase zu den Mundwinkeln zogen, gaben ihm ein verbittertes Aussehen. Mabel seufzte verhalten. So hatte eben jeder sein Päckchen zu tragen, und kein Menschenleben verlief stets in geordneten Bahnen.
Mabel verbrachte eine unruhige Nacht, in der sie von wirren Träumen geplagt wurde. Einmal träumte sie, wie Denzil Wilmington betrunken auf eine junge Frau einschlug, als diesejedoch den Kopf zu ihr drehte, war es nicht Rachel, sondern Sarah Miller. Dann ging sie mit Victor Daniels auf den Klippen über dem Hafen von Polperro spazieren, und plötzlich zielte Victor mit einem Gewehr auf sie und wollte sie zwingen, sich von den Klippen ins Meer zu stürzen. Nach jedem Traum wachte Mabel schweißgebadet und mit klopfendem Herzen auf. Fahles Mondlicht fiel durch das Fenster und ließ die Konturen der Möbel wie geisterhafte Schatten erscheinen. Sie war froh, als die nahe Kirchturmuhr endlich die sechste Morgenstunde schlug. Mabel stand auf, ließ sich ein heißes Bad ein, und überlegte – während sie im duftenden Schaum entspannte –, was sie jetzt tun sollte. Sie war froh, dass heute Nachmittag eine Probe der Theatergruppe angesetzt war und gespannt, wie Eric Cardell auf Michaels Unfall reagieren würde. Außerdem blickte sie angespannt der Begegnung mit Rachel entgegen, um zu erfahren, wie es dem Mädchen ging.
Eine Minute vor sieben betrat Mabel den Frühstücksraum. Sie war um diese frühe Uhrzeit der einzige Gast, doch ein junges, hübsches Serviermädchen und ein Kellner waren gerade dabei, das Frühstücksbüfett zu bestücken. Mabel bestellte Tee, Spiegeleier mit Speck, gebackenen Bohnen in Tomatensoße, Tomaten und Champignons. Obwohl ihr Magen wie zugeschnürt war, wusste sie, sie würde sich nach einer reichhaltigen Mahlzeit besser fühlen.
Während sie sich am Büfett mit Cornflakes und in Sirup eingelegten Grapefruitschnitzen bediente, hörte sie, wie das Serviermädchen zum Kellner sagte: „Michael geht es immer noch sehr schlecht. Die Ärzte wissen nicht, ob er die nächsten Tage überlebt.“
Mabel spitze die Ohren, während sie scheinbar desinteressiert die Cornflakes löffelte. Als der Kellner antwortete, gaber sich keine Mühe, seine Stimme zu senken. Offenbar kam er nicht auf die Idee, dass Mabel begierig dem Gespräch folgte.
„Ist ein schöner Scheiß, was Michael passiert ist, dabei hatte er doch kaum was getrunken. Nur ein Bier, ich erinnere mich genau, denn er saß mir an der Theke gegenüber. Freitag hatte ich ja meinen freien Abend.“
Das Mädchen seufzte und strich sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter die Ohren.
„Michael hat nie getrunken, wenn er mit dem Motorrad unterwegs war. Wenn er auch sonst alles flachgelegt hat, was einen Rock anhat - mit dem Alkohol war er vorsichtig.“
„War?“ Der junge Kellner runzelte die Stirn. „Du sprichst von ihm, als wäre er schon tot. Nee, Charlie, der Michael, der ist zäh. Der wird es schaffen, wirst schon sehen.“ Er trat einen Schritt näher zu dem Mädchen und legte kameradschaftlich einen Arm um dessen Schulter. „Ich hoffe, du trauerst ihm nicht länger nach?“
Das Mädchen lächelte traurig.
„Ach, die Sache mit Michael ist schon so lange her. Gut, er hat mich damals nicht gerade nett behandelt, und ich habe seitdem kein Wort mehr mit ihm gesprochen, dennoch will ich nicht, dass er stirbt. Hoffentlich ist er, wenn er wieder aufwacht, nicht irgendwie behindert. Die Vorstellung, Michael könnte im Rollstuhl sitzen, ist einfach furchtbar.“
„Ich bezahle Euch nicht zum Quatschen, sondern zum Arbeiten.“
Niemand, auch nicht Mabel, hatte bemerkt, wie John Shaw den Raum betreten hatte. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er sein Personal. Charlie verschwand sofort in die Küche, während der Kellner mit dem Eindecken der Tische fortfuhr. Als Shaw Mabel bemerkte, trat er zu ihr.
„Verzeihen Sie bitte, Miss, aber die jungen Leute …“, er zuckte mit den Schultern, „kennen keine Disziplin mehr. Es wird immer schwerer, gutes Personal zu finden.“
Mabel schenkte ihm ein unbekümmertes Lächeln.
„Der Unfall von Michael Hampton ist aber auch furchtbar“, sagte sie.
„Ach, Sie kennen ihn?“
Mabel nickte. „Wir sind in derselben Theatergruppe. Michael sollte in der Aufführung ›Verrat in Lower Barton‹ Prinz Charles spielen.“
„Ja, ja, es ist schrecklich, gibt aber Schlimmeres.“ Das Schicksal des jungen Mannes schien Shaw nicht sonderlich
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