Die Tote von San Miguel
an.
»Was gibt’s?«, meldete sich nach dem fünften Klingelton eine Stimme, die so rau und kratzig wie die eines Verdurstenden klang.
»Diaz hier. Sie klingen furchtbar.«
»Rufen Sie an, um einen philosophischen Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, oder wollen Sie einfach nur meine Zeit vergeuden?«
»Sie haben sich gestern nicht mehr wegen der toten Amerikanerin bei mir gemeldet.«
Am anderen Ende der Leitung ertönte ein dumpfes Klatschen, als Dr. Moza mit der flachen Hand auf irgendetwas Festes schlug, vermutlich gegen seine Stirn. »Mein Gott, was habe ich mir dabei wohl gedacht? Da habe ich doch glatt fünf vergnügliche Stunden damit zugebracht, mich um die Opfer eines Frontalzusammenstoßes auf der Straße nach Queretaro zu kümmern, obwohl ich stattdessen mit Ihnen um Mitternacht über die verwesende Leiche einer Nutte hätte plaudern sollen.«
Diaz stellte sich vor, wie Nicholas vor seinem Schreibtisch hockte, die Augen fest geschlossen, die Stirn in eine Hand gestützt, als litte er unter heftigen Kopfschmerzen, das weiße Hemd zerknittert wie die faltige Haut eines Nashorns, die Manschetten blutverschmiert.
»Was, zum Teufel, tun Sie dann noch im Büro?«, murmelte er beschwichtigend. »Gehen Sie nach Hause und gönnen Sie sich ein bisschen Schlaf.«
»Wie Sie offenbar praktischerweise gelegentlich vergessen, Hector, halte ich jeden Samstagvormittag in der Klinik eine Sprechstunde ab. Die übrigens gerade beginnt. Ich kann jetzt schon die Schwachen und Geknechteten drüben im Wartezimmer wimmern, husten und sterben hören.«
»Nichts liegt mir ferner, als Sie von Ihrer gemeinnützigen Arbeit abzuhalten. Sagen Sie mir nur, ob die Autopsie irgendetwas ergeben hat.«
»Soweit ich weiß, nichts.«
Diaz seufzte. »Was hat das zu bedeuten?«
»Es bedeutet, dass der Rechtsmediziner in der glorreichen Hauptstadt unseres Bundesstaats noch nicht die Zeit gefunden hat, die Leiche aufzuschneiden.«
»Wie ist das möglich?«, stieß Diaz verärgert hervor.
»Ich habe mit Dr. Gupta gesprochen, dem Chefpathologen. Wie alle anderen überall auch, sind seine Leute überarbeitet und unterbezahlt. Für ihn hat gerade die Leiche eines Busfahrers Priorität, eines von acht Opfern, die ums Leben gekommen sind, als der Bus eine Kurve nicht richtig erwischt und versucht hat, ohne Flügel zu fliegen. Alle wollen wissen, ob der Busfahrer high von Amphetaminen war oder Mezcal getrunken hat. Danach stehen zwei Leute auf der Liste, die mehrere Stunden, nachdem sie im Privatzimmer eines sehr teuren bordellos in Guanajuato gegessen haben, unter furchtbaren Schmerzen gestorben sind. Einer der beiden war ein sechzehnjähriger Gangster, der andere ein Priester mit sodomistischen Neigungen. Niemand setzt einen peso auf eine Fleischvergiftung als Todesursache. Aber Dr. Gupta hat versprochen, dass er persönlich beider Obduktion von Amanda Smallwood anwesend sein wird.«
»Wann, glaubt Dr. Gupta, kann er sich um unseren so unbedeutenden Fall kümmern?«
»Ihr unbedeutender Fall, mi amigo , nicht unserer. Vielleicht heute, falls er eine Nachmittagsschicht einlegt. Obwohl er irgendwas von wegen einer Partie Golf mit dem Gouverneur erwähnt hat. Ich würde auf Montag tippen, sofern zwischendurch nichts Wichtigeres reinkommt.«
»Kein Wunder, dass man uns immer noch für ein Dritte-Welt-Land hält.«
»Entspannen Sie sich. Atmen Sie tief durch oder machen Sie nackt einen Yogakurs. Sie scheinen der Einzige zu sein, der von einem Sexualmord an einer obskuren Fremden besessen ist. Was Sie brauchen, ist eine feste Freundin.«
»Genau das hat auch mein Vater gesagt.«
»Stoff zum Nachdenken, was?«
»Wenn ich Ihren Rat als Sextherapeut brauche, werde ich Sie danach fragen.« Diaz legte eine kurze Pause ein, während er feindselig eine schwarze Spinne beobachtete, die langbeinig über seinen Schreibtisch stolzierte und dabei eine tote Fliege wie einen Koffer mit sich schleppte. »Rufen Sie mich an, sobald Sie von Gupta gehört haben«, fügte er hinzu.
»Jawohl, mein Führer« , erwiderte Moza bissig.
Als Diaz sein Büro verließ, war das Revier verwaist. Nur die rotierenden Flügel der Deckenventilatoren und die leuchtenden Computermonitore zeugten davon, dass hier noch vor kurzem jemand gewesen war.
Wohin waren alle anderen verschwunden? Und wie kam es, dass sich nur er und Cedillo auf Amandas Ermordung konzentrierten? Was Cedillo betraf, lag die Antwort auf der Hand. Die potentielle Panik, die unter den Touristen
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