Die Tote von San Miguel
undfreiwilligen Exilanten ausbrechen konnte, sobald sich die Nachricht über den furchtbaren Tod des Mädchens herumsprach, stellte sowohl eine wirtschaftliche als auch politische Bedrohung dar. Aber wie sollte er seine eigene Fixiertheit auf den Fall erklären? Nur weil etwas Schönes und Produktives von einem Wahnsinnigen ausgelöscht worden war? Andererseits war Amandas ziellose Existenz unter den artistas und Rumtreibern von San Miguel schon vor ihrem Tod ein vergeudetes Leben gewesen. Erinnerte ihr frühes Ende ihn vielleicht nur schmerzhaft daran, dass die Zeit, die ihm blieb, um seinen Seelenfrieden zurückzugewinnen, allmählich knapp wurde?
Vergiss deine verpfuschte Seele , dachte er. Mach einfach mit der beschissenen Ermittlung weiter .
Er blätterte das Telefonbuch von San Miguel durch, bis er die Adresse von Fran Kovacs, der Freundin und Unterstützerin des verschwundenen Gregori Gregorowitsch, gefunden hatte. Da immer noch niemand zurückgekehrt war, als er gehen wollte, hinterließ er eine handschriftliche Notiz darüber, wo er bei Bedarf zu finden war, und klebte sie auf Ortiz’ Computermonitor.
Diaz bahnte sich zielstrebig seinen Weg durch den jardín und die zahllosen Familien, die in ihrer besten Feiertagskleidung über die Wege spazierten oder die zahllosen Stände umlagerten, an denen gegrilltes Schweine- und Hähnchenfleisch sowie süße Getränke und alle Sorten von dulce verkauft wurden. Jedes Wochenende wurde irgendein religiöses Fest gefeiert, und die waren immer mit Trinkgelagen und Balzritualen verbunden, die unweigerlich schwere Körperverletzungen nach sich zogen.
Nachdem er in die Calle Terrapien abgebogen war, bliebendie Menschenmengen hinter ihm zurück. Wie die meisten Straßen im Zentrum von San Miguel war auch die Calle Terrapien eng, steil und uneinheitlich gepflastert. Diaz überwand die Steigung so behände wie eine Bergziege.
Der Hauseingang Nr. 83 bestand aus einer schmalen, mit glänzender Türkisfarbe gestrichenen Holztür. Er drückte auf den Klingelknopf. Kurz darauf wurde die Metallabdeckung eines Sichtschlitzes in Augenhöhe zur Seite geschoben. Ein einzelnes Auge wie das eines Zyklopen musterte ihn misstrauisch, und eine gedämpfte Frauenstimme erkundigte sich, was er hier wollte.
»Inspector Diaz von der Policía Judicial «, stellte er sich vor. »Ich suche einen Künstler namens Gregori Gregorowitsch. Soweit ich weiß, wohnt er hier.«
» Hat hier gewohnt«, korrigierte die Stimme.
»Es wäre bequemer für uns beide, wenn Sie mich hereinlassen würden und wir uns von Angesicht zu Angesicht unterhalten könnten.«
Die Sichtschlitzblende schloss sich wieder. Dann klickte der Bolzen im Schloss, und die Tür öffnete sich nach innen auf einen Hof mit blendend weiß getünchten Mauern voll mit roten und rosafarbenen Geranien in Blumentöpfen.
Die Frau, die Diaz eine Hand entgegenstreckte, war nicht unbedingt attraktiv. Doch ihr unvorteilhaftes Äußeres wurde durch die Energie ihrer grünlichen Augen wettgemacht, die Diaz aufmerksam betrachteten. Ihr langes schmales Gesicht passte gut zu den kantigen Konturen ihres schlanken Körpers, den ein geblümtes luftiges Freizeitkleid aus Baumwolle umhüllte. Ihre Brüste waren klein, aber nicht unansehnlich. Das lohfarbene Haar trug sie in einer pflegeleicht geschnittenen struppigen Stufenfrisur.
Sie machte auf Diaz den Eindruck einer Frau, die sich ihrenPlatz in der Welt durch Willensstärke erkämpft hatte – wie eine Blume inmitten von Steinen.
»Fran Kovacs«, sagte sie, als ihr Diaz die Hand schüttelte. »Ich habe gerade Tee gekocht.«
Sie führte ihn über den Hof und durch eine Glastür in einen Raum mit einer hohen Decke, dessen Wände genauso leuchtend weiß gestrichen waren wie die Hofmauern. Tageslicht flutete durch schmale, vom Boden bis zur Decke reichende Fensterschlitze. Entlang der Rückseite des Raumes waren zahlreiche Tonfiguren auf Gestellen und in Wandnischen arrangiert. Auf einem niedrigen Tischchen standen eine englische Teekanne aus Porzellan und eine einzelne Tasse auf einem Untersetzer.
Fran verschwand kurz in einem Flur und kehrte mit einer zweiten Tasse und der dazugehörigen Untertasse zurück. Sie nahmen einander gegenüber auf weißen Ledersesseln Platz. Diaz sah ihr einen Moment lang in die Augen und ließ den Blick dann wieder zur Rückseite des Zimmers wandern.
»Dieser Raum dient mir gleichzeitig als Wohnzimmer und als Atelier für meine Arbeit«, sagte sie, während sie Tee in
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