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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Woods
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zurück, amigo . Lassen Sie einfach los.«
    Er hob die rechte Hand. Dort, wo eigentlich Zeige- und Mittelfinger hätten sein sollen, befanden sich nur zwei mit weißem Narbengewebe überzogene Stummel.
    Der Anblick der grotesken Entstellung katapultierte Diaz’ Erinnerung zurück zu dem Silvesterabend, an dem seine Tochter von einer verirrten Kugel getötet worden war, dievielleicht ein betrunkener New Yorker in Feierlaune abgefeuert hatte. Er sah sie wieder vor sich, wie sie in seinen Armen gelegen hatte, das Gesicht von Verwirrung und Angst gezeichnet, während ihr das Blut zwischen den Lippen hervorgesprudelt war. Dann hatte sie die Augen verdreht und war gestorben.
    Die Wut packte Diaz’ an den cojones wie die Zähne eines zum Kampf gedrillten Rottweilers. Er wusste, dass er im Begriff war, etwas äußerst Dummes zu tun, aber es war ihm völlig egal. Er schoss wie von einer gespannten Sprungfeder losgeschnellt aus seinem Sessel hoch und hechtete über den Schreibtisch. Morales grunzte vor Überraschung und Schmerzen auf, als Diaz wuchtig mit ihm zusammenstieß und ihm den Unterarm so heftig in die Kehle presste, dass Morales mit dem Hinterkopf gegen den Türrahmen knallte. In Diaz’ freier Hand tauchte plötzlich die vernickelte Pistole Kaliber .25 auf. Ihr kurzer Lauf bohrte sich in eins von Morales’ Nasenlöchern.
    »Amanda Smallwood wurde brutal ermordet!«, zischte Diaz. »Sie hatte es nicht verdient zu sterben. Ich habe vor, ihren Mörder zu finden. Schieben Sie sich also Ihre lustigen Anekdoten und pikanten Geschichten in den Arsch, Lieutenant. Und nennen Sie mich ja nie wieder amigo! «
    Er zog die .45er aus Morales Hüftholster und drückte auf den Magazinauswurf. Das Magazin rutschte aus dem Griff und landete klappernd auf dem Schreibtisch. Als er den Unterarm von der Kehle des Bundespolizisten zurückzog, krümmte sich Morales zusammen und schnappte mühsam nach Luft. Diaz zerrte ihn mit sich und stieß ihn zur Tür des Reviers hinaus.
    Draußen vor dem Eingang fand Morales das Gleichgewicht wieder und massierte seine gequetschte Kehle. Als erDiaz anblickte, fiel das Licht der Lampe über dem Türeingang auf ein maskenhaft starres Gesicht, das keinerlei Emotionen verriet. Dann drehte er sich wortlos um und ging. Das Klappern der Nägel in den Sohlen seiner paramilitärischen Stiefel auf dem harten Pflaster wurde leiser, während er sich ohne Hast entfernte.
    Diaz sah zu, wie Morales die Straße hinunterging und von der Dunkelheit verschluckt wurde. Wenn ich ein Talent habe , dachte er, dann das, mir Feinde zu machen .

Kapitel 20
    Bass Smallwood wurde durch den Gestank seines eigenen Erbrochenen geweckt, mit dem er sich die Vorderseite des Hemdes und der Hose bekleckert hatte.
    Er steckte mit dem Kopf in einem Winkel, der aus drei Flächen gebildet wurde, bestehend aus einer Längs- und einer Querwand sowie dem Fußboden eines engen Ganges, der in eine verdreckte Toilette führte. Sein Gehirn bäumte sich auf.
    Smallwood stemmte sich mühsam hoch und torkelte zu einem schmalen Türdurchbruch am anderen Ende des Ganges. Dahinter lag ein Raum mit niedriger Decke, in dem es nach Alkohol, Tabak, Gras und verschwitzter Geilheit stank. Eine schäbige Bar mit kreuz und quer stehenden, aus ungehobelten Holzbrettern zusammengezimmerten Tischen. Auf einem davon lag ein toter oder bewusstloser mestizo . Eine Schwingflügeltür führte auf die Straße hinaus. Über und unter den Türflügeln sickerte Licht wie ein langsam wirkendes Gift in die Bar.
    Smallwood benötigte eine Weile, bis ihm wieder einfiel, dass er sich in irgendeinem mexikanischen Provinzkaff befand, in das er gekommen war, um den Leichnam seines einzigen Kindes zu identifizieren. Dass seine Genlinie abrupt in einer Sackgasse angekommen war.
    Draußen vor der cantina machte er sich im hellen Sonnenschein eines frühen Morgens ein Bild von seiner äußeren Erscheinung. Er sah aus wie der letzte Penner, die Kleidung verdreckt und zerknittert, das Gesicht schmutzverschmiert, braune Staubringe um beide Fußgelenke herum. Wie waren ihm seine Socken abhandengekommen?
    Zwei Indianerinnen kamen vorbei und sahen durch ihn hindurch, als wäre er lediglich eine Peyotehalluzination. Smallwood klopfte seine Hosentaschen ab und vergewisserte sich, dass er wie durch ein Wunder noch immer im Besitz seines Portemonnaies war. Sein Kopf war ein schmerzhaft hämmerndes Schlachtfeld.
    Er erinnerte sich an seine Begegnung mit dem Bestattungsunternehmer Dr.

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