Die Tote von Schoenbrunn
vielleicht für ihre eigenen Rechte, aber sicher nicht für die Rechte der Frauen ihres Volkes. Trotzdem lächelte sie Gustavs Halbschwester freundlich an und fragte sie, ob sie sich nicht hinaus auf die Terrasse setzen mochte.
„Liebend gerne! Frische Luft ist unser Lebenselixier, pflegte die Kaiserin oft zu sagen. Wenn Sie eine Terrasse haben, sollten wir diese aufsuchen.“
Die jungen Damen nahmen auf etwas klapprigen Gartenstühlen aus ergrautem Teakholz unter der Weinlaube Platz.
Josefa servierte ihnen Kaffee und einen selbstgebackenen Apfelstrudel.
Obwohl sie im Schatten saßen, spannte Marie Luise ihren kleinen hellgelben Sonnenschirm auf.
Sie scheint sehr bedacht auf ihren Teint zu sein, dachte Dorothea, die die warmen Sonnenstrahlen des herrlichen Altweibersommers auf ihrer Haut genoss, selbst um den Preis, dass sich ihre Sommersprossen vermehrten.
Die Dahlien und Chrysanthemen standen jetzt, Anfang Oktober, in voller Blüte. Die beiden Birken links und rechts der Blumenrabatte warfen jedoch schon ihre Blätter ab.
„Diese Birken machen viel Mist“, schimpfte Josefa leise, als sie die Blätter zusammenzukehren begann.
„Lass das bitte sein, Josefa“, sagte Dorothea. „Ich mag das Laub, obwohl es mich traurig stimmt, weil es mich an das Ende des Sommers erinnert.“
Sobald Josefa mit Schaufel und Besen wieder in der Küche verschwunden war, fragte Dorothea, ob Marie Luise das Interesse Ihrer Majestät an der Selbstbestimmung der Frauen teilen würde.
„In dieser Hinsicht halte ich es ganz mit Ihrer Majestät. Nichts widerstrebt mir mehr, als einem Manne untertan zu sein“, sagte Marie Luise heftig. „Sie sollten wissen, dass ich, trotz neunjähriger Verlobung, noch immer nicht bereit bin zu heiraten.“ Ihr Gesicht hatte sich gerötet und als sie fortfuhr, klang sie fast euphorisch: „Und ich vertraue Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, dass Ihre teure Majestät mir von dieser Eheschließung oftmals abgeraten hat.“
Dorothea war verblüfft über die offenen und leidenschaftlich vorgetragenen Worte ihres Gastes. Dann erinnerte sie sich, was sie in den Studien über Hysterie von Doktor Sigmund Freud und Doktor Josef Breuer gelesen hatte, und wunderte sich gleich weniger über den unkontrollierten Ausbruch von Gustavs Halbschwester. Sie schalt sich zwar, etwas vorschnell mit ihrer Diagnose zu sein, doch sie war überzeugt, eine Hysterikerin vor sich zu haben.
Als sich ihr Gast wieder etwas beruhigt hatte, erzählte Dorothea ihr mehr über die frauenrechtlerischen Aktivitäten von Vera von Karoly.
Marie Luise wirkte beeindruckt. Allerdings stellte sie immer wieder Parallelen zwischen Vera von Karoly und der Kaiserin her, die Dorothea nicht nachvollziehen konnte. Die ermordete Monarchin war in ihren Augen eine sehr egozentrische Person gewesen, während ihre Patentante eine warmherzige und uneigennützige Frau war.
Dorothea war nahe daran, die Geduld mit ihrem Gast zu verlieren, als Gustav auftauchte.
Er reichte Josefa die Schnecken. Angeekelt verzog sie den Mund.
„Bitte, mein Schatz, du weißt, ich esse sie so gern. Sind eh nur ein paar“, Gustav schaute sein ehemaliges Kindermädchen so flehend an, dass sie lachen musste.
Kaum hatte sich Gustav zu den jungen Damen auf der Terrasse gesellt, änderte sich Marie Luises Verhalten. Plötzlich benahm sie sich wie ein unschuldiges kleines Mädchen. An Dorothea schien sie jedes Interesse verloren zu haben. Sie hatte nur mehr Augen für Gustav.
Ihre einzige Entschuldigung in Dorotheas Augen war, dass die Arme nichts von ihrer Verwandtschaft mit Gustav ahnte. Sie amüsierte sich, als sie bemerkte, wie peinlich ihm die ganze Situation war.
Josefa bereitete dem Theater ein Ende, indem sie zu Tisch bat. Dorothea fühlte sich bemüßigt, Marie Luise einzuladen, zum Mittagessen zu bleiben. Ihre gute Erziehung erlaubte es der Comtesse von Batheny jedoch nicht, diese Einladung anzunehmen. Sie verabschiedete sich wortreich und rauschte mit ihrer Zofe im Schlepptau von dannen.
Gustav registrierte, dass Josefa in der Erwartung, der unangemeldete hochherrschaftliche Gast würde bleiben, groß aufgekocht und sogar das gute Geschirr der Großmama genommen hatte, das einzige Speiseservice, das Vera nicht im Dorotheum versetzt hatte. Und auf der Kredenz glänzten heute sogar zwei, ebenfalls aus dem Erbe der Karolys gerettete, silberne Prunkstücke, eine Teekanne und eine Keksdose, beide geprägt mit dem kaiserlich-königlichen Doppeladler
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