Die Toten befehlen
Atlòt! ...«
Kristallklar ertönte eine Frauenstimme in der Ferne und brach das tiefe Schweigen der Mittagsstunde, auf der die Glut der afrikanischen Sonne schwer lastete. Der Ruf erklang von neuem, dieses Mal aus größerer Nähe.
Pepet sprang mit einem Satz aus seiner hockenden Stellung auf. Margalida rief ihn. Sein Vater schien irgendeine Besorgung für ihn zu haben. Aber Jaime hielt den Jungen am Arm zurück.
»Laß sie kommen«, sagte er lächelnd, »tue, als ob du taub wärest, damit sie weiter ruft.«
Das Kaplanchen lachte mit, entzückt über dieses harmlose Komplott, wollte aber gleich daraus Nutzen ziehen und mahnte Febrer mit kühner Vertraulichkeit:
»Also wirklich, Don Jaime, Sie werden den Vater bitten, mir das Messer vom Großvater zu geben? Ich muß immer daran denken!«
»Abgemacht«, antwortete Febrer, »und wenn der Vater nicht will, kaufe ich dir das schönste Messer, das ich in der Stadt finde.«
Der Junge rieb sich zufrieden die Hände, seine Augen strahlten.
»Aber du bekommst es nur, damit du ein Mann bist, wie die anderen«, fuhr Febrer fort, »aber nicht, um es zu gebrauchen. Verstanden? Es ist nichts als ein Schmuck.«
Pepet, dem es darum zu tun war, seinen Wunsch möglichst bald erfüllt zu sehen, bejahte energisch mit dem Kopfe. Jawohl, nur ein Schmuck ... Doch seine Augen wurden dunkler von einem grausamen Zweifel. Ein Schmuck! Aber wenn ihn jemand beleidigte, was blieb einem Manne dann als Antwort übrig?
»Pepet! ... Atlòt! ...«
Die Stimme erschallte jetzt ungeduldig am Fuß des Turmes, und Febrer hoffte, jeden Moment Margalida auf der Treppenleiter auftauchen zu sehen. Aber er wartete vergeblich.
Endlich ging er zur Tür und sah das junge Mädchen unten an der Treppe stehen. In ihrem aufwärts gewandten Gesicht leuchteten die großen schwarzen Augen.
»Grüß Gott, Mandelblüte!« rief Febrer lachend, aber mit etwas unsicherer Stimme.
Mandelblüte!... Das junge Mädchen wurde vor Überraschung rot. Wie war es möglich, daß Don Jaime diesen Beinamen kannte! Und wie konnte nur ein ernsthafter Herr wie er solche Kindereien wiederholen?
Febrer sah nur noch den Hut von Margalida. Sie hatte den Kopf gesenkt und spielte in ihrer Verwirrung mit dem Zipfel der Schürze, schamhaft, wie ein Mädchen, das sich plötzlich der Bedeutung seines Geschlechts bewußt wird und zum ersten Male eine Liebeserklärung anhört.
III.
Am folgenden Sonntag ging Febrer zum Dorf. Es war einer der letzten Sommertage. Die blendend weiß gekalkten Mauern der Bauernhäuser schienen wie Spiegel die heißen Sonnenstrahlen zurückzuwerfen. Mückenschwärme summten in der warmen Luft. Von den Feigenbäumen, deren niedrige breite Laubkronen sich zu einem grünen Dach wölbten, fielen überreife, von der Hitze geplatzte Früchte, die auf dem Boden in einen purpurroten Fleck zerflossen. Zu beiden Seiten des Weges bildeten die stachligen Zweige der Nopale dichte Hecken. Zwischen ihren Wurzeln glitten, scheu und sonnentrunken, schillernde Eidechsen hin und her.
Auf den schmalen Fußpfaden, die durch die Oliven- und Mandelbaumanpflanzungen führten, sah man überall Gruppen von Bauern auf dem Wege zum Dorf. Voraus gingen im Sonntagsstaat die jungen Mädchen,deren goldene Ketten in der Sonne blitzten; neben ihnen die treue Eskorte der Bewerber, eifersüchtig auf das geringste Zeichen der Bevorzugung. Hinter ihnen kamen die Eltern, fast alle vor der Zeit gealtert durch die schwere Arbeit, fügsame, ergebene Lasttiere mit dunkler Haut, ausgetrocknet wie das Holz der Rebe, die mit der verschwommenen Erinnerung an die Zeit ihres Festeigs die Vorstellung eines weit zurückliegenden Sommers verbanden.
Als Febrer in San José angelangt war, ging er geradenwegs zur Kirche, um die herum sechs oder acht Häuser standen, darunter die Schule, die Dorfschenke und das Haus des Alkalden. Stolz ragte ihr Turm empor, ein Symbol des Bandes, das alle, viele Kilometer weit über Berge und Täler verstreuten Anwesen und Hütten umschlang.
Jaime nahm den Hut ab, trocknete seine feuchte Stirn und betrat einen Kreuzgang, der in die eigentliche Kirche führte. Von hier aus sah er verspätete Gruppen ankommen, die sich beeilten, da die Glocke schon zum letzten Male läutete. Durch die geöffnete Tür drang bis zu ihm ein Geruch von brennenden Kerzen, Schweiß und muffigen Kleidern. Wenn er diese braven Menschen einzeln antraf, empfand er für sie freundliche Gefühle. Sobald sie aber, wie hier, in Massen zusammenkamen, flößten
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