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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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als wären Gegenwart und Vergangenheit aufeinandergetroffen und hätten sich vermischt wie die Wasser zweier Ströme, die Geröll und Sand mit sich rissen und flussabwärts schleppten – und dabei alles polierten und verbargen, bis es sich irgendwann löste und sechs Jahrzehnte später wieder ans Ufer gespült wurde.

17. Kapitel
    10. Juni 1944
    Der Frühling kam ganz unerwartet. Aber erst, nachdem wir eine Dunkelheit durchgestanden hatten, die in ihren düstersten Momenten für mich kein Ende zu nehmen schien. Überlebt habe ich sie, nehme ich an, merkwürdigerweise dank JULIA.
    Das Funken wurde für mich zur Obsession. Oder weniger das Funken selbst als das Sammeln dafür. Das Zählen. Es war – es ist – wie eine Krankheit, ein Zwang, wie der Zwang, sich immer nur nach links zu drehen oder jede Elster begrüßen zu müssen. Dreizehn Geländewagen in Richtung Süden unterwegs. Fünfzehn Panzer in Richtung Westen. Zwanzig Benzinkanister unter der Plane hinter der Kirche. Nachdem ich erst damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.
    Wenn ich auf meinem Fahrrad am Lungarno unterwegs war, zählte ich zwischen den silbernen Speichen die rauen Flecken im Asphalt, wo die Minen vergraben waren. Ich studierte Sandsäcke. Als es wärmer wurde, stieg ich auf jede Anhöhe und jeden Turm und suchte, während ich scheinbar die Aussicht genoss, die Gebäude nach Gewehrmündungen ab. Mit meinen neuen Augen sah ich eine auf den Tod gefasste Stadt. Maschinengewehrnester auf den Türmen. Im Dickicht der Boboligärten aufgestapelte Munitionskisten. Ich sah alles und zählte alles. Und nachts, kurz vor dem Einschlafen, trug ich alle Zahlen in meine imaginäre Karte ein. Ich wiederholte sie – fünfundzwanzig hiervon, sieben davon –, bis ich mir alles fest eingeprägt hatte. Bis ich JULIA häppchenweise damit füttern konnte.
    Je kürzer die Nächte wurden, desto öfter heulten die Luftschutzsirenen. Rifredi wurde immer wieder bombardiert. Das Campo di Marte, die Porta al Prato und das Theater – unser so schönes Theater. Und dann, eines Morgens, änderten die Alliierten ihre Strategie. Statt Fabriken und Bahnhöfe zu bombardieren, beschlossen sie, einen Tag lang nur Villen zu beschießen. Ich nehme an, sie wollten nur jene treffen, die von den Deutschen beschlagnahmt worden waren. Bedauerlicherweise hatten sie wieder einmal ihre Brillen verlegt und schossen daneben.
    Die Villa, in die man nach dem Bombenangriff im letzten Herbst die Kinder aus dem Kinderkrankenhaus evakuiert hatte, wurde schwer getroffen. Noch am selben Abend traf ich auf unserer Station die Oberschwester. Das Rote Kreuz sei informiert gewesen, erzählte sie. Der deutsche Konsul beteuerte, die Alliierten seien ebenfalls informiert gewesen, sie seien über alle Krankenhäuser informiert. Selbst jetzt werde ich so wütend, dass ich kaum noch schreiben kann, wenn ich nur daran denke. Ich muss Pause machen und meine Hände kneten, damit ich sie nicht zu Fäusten balle.
    Überall lagen winzige Leichname. Zwischen Schutt und Feuer. Inmitten der Trümmer packte ein alter Mann meinen Arm. Er sagte mir, er suche nach seiner Enkeltochter. Dann brach er in Tränen aus und erzählte, dass seine Katze weggelaufen sei und er nur noch sterben wolle.
    Dann, Ende März, attackierten die GAP in Rom eine Kolonne von deutschen Soldaten. Zweiunddreißig Männer wurden getötet, viele weitere verwundet. Am folgenden Abend gab das deutsche Oberkommando eine Erklärung ab. Von nun an würden für jeden getöteten Deutschen zehn Zivilisten exekutiert.
    Mein Leben, Issas Leben, das Leben von Mama und Papa, von jedem Mann und jeder Frau auf der Straße – jetzt ist es offiziell. Jeder Deutsche ist zehnmal so viel wert wie wir.
    Etwa einen Monat danach nahmen wir die Fahrten mit dem Krankenwagen wieder auf, und ich sah Issa erstmals seit dem Februar wieder. Unsere »Päckchen« waren auch diesmal alliierte Kriegsgefangene. Mir war klar, dass wir tun mussten, was wir taten, dass wir keine Wahl hatten, aber wenn ich ihnen ins Gesicht sah, während ich ihnen Verbände anlegte und sie in Opfer ihrer eigenen Bomben verwandelte, konnte ich mir nur schwer das Lachen verkneifen. Es war kein fröhliches Lachen, sondern ein wahnsinniges. Denn eigentlich ist das Wahnsinn – dass wir diese Männer retten, damit sie wiederkommen und uns im Namen der Freiheit von Neuem bombardieren können.
    Offenbar hatte Il Corvo mir das angesehen. Oder etwas in meinem Blick entdeckt. Ich hatte ihn

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