Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
beantwortet.
    Später bereute ich, dass ich ihn nicht gefragt hatte, ob er das vielleicht so gemeint hatte: dass in Zeiten wie diesen die Blutsbande mehr zählen als die Liebe, mehr als die hehre Absicht, ein Opfer zu bringen, mehr als die Freiheit der Entscheidung. Aber dazu bekam ich keine Gelegenheit mehr, denn dies waren die letzten Worte, die Il Corvo und ich wechselten.
    Ende Mai kehrte Issa in die Stadt zurück und brachte die Neuigkeit mit, dass es an der Nordseite des Gebirges schwere Kämpfe gegeben hatte. Die Partisanengruppe, an die sie und Carlo die »Päckchen« ausgehändigt hatten und die sich Stella Rossa nennt, hatte gehört, dass es ein rastrellamento geben sollte – dass die Deutschen und die Faschisten Vorbereitungen trafen, um zum Angriff überzugehen und sie auszulöschen. Diesmal jedoch hatten die Partisanen beschlossen, nicht einfach unterzutauchen, sondern selbst anzugreifen. Die Nazis und Faschisten verloren zweihundertvierzig Mann und mussten sich schließlich zurückziehen. Die Stella Rossa verlor genau einen Kämpfer.
    Die Nachricht wirkte elektrisierend auf uns – vor allem, da wir am nächsten Tag hörten, dass die Alliierten nach beinahe viermonatigem Stillstand praktisch über Nacht bei Anzio den Durchbruch geschafft hatten und die Deutschen jetzt nach Norden und in Richtung Rom trieben. Selbst ich war aufgeregt. Plötzlich sah es so aus, als würde rund um uns herum alles zersplittern, als würde ein riesiger Eisblock gesprengt. Zum ersten Mal erschien es wirklich möglich, dass die Alliierten in wenigen Wochen Florenz erreichen könnten. Niemand verschwendete noch einen Gedanken an Krankenwagenfahrten oder an Särge, in denen sich entflohene Kriegsgefangene versteckten – wie sie Issa transportiert hatte –, oder auch nur daran, deutsche Uniformen zu verwenden, um die »Überstellung« von Gefangenen zu verlangen. Inzwischen dachten alle ausschließlich an JULIA. Jede noch so kleine Information, jede Nachricht über einen Schützenposten oder eine verlegte Kolonne konnte entscheidend sein.
    In den folgenden Tagen schwärmten die Deutschen aus wie wild gewordene Bienen. Die Banda Carita schien allgegenwärtig, und die Bombardierungen wurden immer schlimmer. Einen sicheren Ort zum Funken zu finden war von Beginn an schwierig gewesen, aber mittlerweile war es ein Ding der Unmöglichkeit. Dann, am 5. Juni, wurde Rom befreit. Die erste europäische Hauptstadt, die an die Alliierten gefallen war. Am nächsten Morgen hörten wir im Schweizer Radio von der Invasion in Frankreich. An jenem Abend bat uns ROMEO, alles und jedes zu senden, was wir wussten.
    Mama, Papa, Issa, Carlo, Enrico und ich trafen uns zu Hause. Die Männer und Issa kamen einzeln nach Einbruch der Dunkelheit und schlüpften wie Schatten auf unsere Terrasse. Es war eine warme Nacht, trotzdem wagten wir nicht, die Fenster oder die Fensterläden zu öffnen. Wir saßen in der Küche, bei geöffneten Speisekammer- und Kellertüren, falls jemand vorbeikam und wir uns verstecken mussten, verbarrikadiert wie Tiere in ihrem Bau.
    Alle wollten nur so kurz wie möglich bleiben, darum blieb keine Zeit für Plaudereien. Ich hatte keine Gelegenheit, mit Issa zu tuscheln und sie zu fragen, wie es ihr ging – allerdings sah ich Mamas Blick geschickt wie Finger über Issas Leib wandern und war überzeugt, dass sie etwas ahnte. Als sie mich ansah, spürte ich die Frage in ihrem Blick und musste das Gesicht abwenden. Papas gedämpfte Stimme ersparte es mir, zu Issas Judas zu werden.
    Er wies darauf hin, dass es trotz meiner Bemühungen immer schwieriger wird, einen Platz für JULIA zu finden. Wir können von jeder Wohnung aus nur einmal senden, aber bei jedem Umzug gehen wir ein Risiko ein. Papa hielt inne und sah sich um. Dann schlug er vor, dass wir alles sammeln sollten, was wir wissen – über die Stadt, über die Befestigungen, über die Eisenbahnstrecken und Minen und Elektrizitätswerke –, um dann ein letztes Mal auf Sendung zu gehen. Eine letzte Übertragung zu wagen, bevor die Alliierten eintrafen. Ein letzter Liebesbrief von JULIA an ihren ROMEO.
    Als er zu Ende gesprochen hatte, wurde es still. Mama und Papa saßen an entgegengesetzten Enden des Tischs. Ich hatte neben Enrico Platz genommen, Carlo und Issa uns gegenüber. Wir hatten kein Licht gemacht und waren so nicht mehr als vertraute Schatten, Umrisse im Halbdunkel der Sommernacht, die sich durch die Schlitze in den Fensterläden ins Haus stahl. Ich schaute auf meine

Weitere Kostenlose Bücher