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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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Finger zu lösen. Um Papas Handgelenk läuft ein heller Streifen. Die Uhr, die ihm sein Vater zum einundzwanzigsten Geburtstag schenkte, ist verschwunden. Mama sah zu mir auf.
    »Was ist mit dir?«, fragte sie.
    Ich sah meine eigene Hand an. Trotz allem trage ich noch den Verlobungsring, den Lodo mir geschenkt hat.
    »Der ist hier sicherer«, sagte Mama.
    Ich nickte. Während ich im warmen, honigweichen Licht stand, zog ich ihn ab und reichte ihn ihr. Sie wickelte ihn in einen Umschlag aus Ölzeug, rammte den Spaten in die dunkle Erde und begann zu graben.

18. Kapitel
    Wegen einer zweitägigen Konferenz in Genua war die Woche verstrichen, ohne dass Pallioti es wirklich bemerkt hatte. Der Sonntag dämmerte klar und frisch. Der Regen, der zu Monatsanfang die Tage eingetrübt hatte, hatte sich wieder verzogen; jetzt war die Luft kristallklar und kalt. Statt selbst zu kochen, hatte Saffy ein Restaurant oberhalb der Boboligärten für ihr gemeinsames Mittagessen ausgewählt. Es lag versteckt hinter einer der alten Villen, und man blickte von dort aus über die Olivenhaine zur Fortezza und auf den hellen Zuckerwürfel der Medici-Villa. Um ein Uhr mittags war es im Restaurant gesteckt voll; allein ihre Gruppe umfasste mehr als ein Dutzend Gäste.
    Pallioti sah sich um. Mehrere Paare mit Kindern waren gekommen. Dazu ein Universitätsprofessor und eine Kuratorin aus einem Museum außerhalb der Stadt. Seine Schwester saß ihm gegenüber und neben ihr Tommaso in einem Hochstuhl. Die Kinder, die mithilfe von dicken Kissen oder Telefonbüchern auf Tischhöhe angehoben worden waren, warfen sich über den Tisch Blicke zu, schnitten Grimassen und tauschten Geheimnisse aus. Sein Schwager war ins Gespräch mit einem Geschäftspartner vertieft, und seine ergrauenden Locken wippten eifrig zu jedem Wort, das der andere von sich gab. Pallioti kannte diese Menschen nicht besonders gut und zum Teil überhaupt nicht, aber sonntags bildeten sie für ein paar Stunden seine Familie. Dann zog er den Anzug und den dunklen Mantel aus, mischte sich unauffällig in die Gruppe, die Saffy jedes Mal neu zusammenstellte, und war für ein paar Stunden einfach nur ihr Bruder.
    Die Antipasti waren verspeist. In der Flaute zwischen den einzelnen Gängen war die Unterhaltung von der Finanzkrise in der Kunst abgedriftet zu den Vorzügen von Sardinien als Ferieninsel. Pallioti ließ sich das Weinglas wieder vollschenken und ließ sich treiben, getragen von den Wellen an Geplauder und Gelächter. Er lauschte gerade gedankenverloren einem Kommentar zu einem neu gebauten Apartmentblock, als er aufblickte und Eleanor Sachs entdeckte.
    Den Kopf angestrengt über die Speisekarte gebeugt, saß sie allein an einem Tisch in der am weitesten entfernten Ecke des großen Raums. Aus der Tatsache, dass noch keine Flasche auf ihrem Tisch stand und der Ober geduldig neben ihr wartete, schloss Pallioti, dass sie eben erst gekommen war. Heute hatte sie ihren schwarzen Rollkragenpullover gegen einen rötlichen getauscht. Der Trenchcoat hing an einem Mantelhaken hinter ihrer Schulter. Das kurze dunkle Haar war vom Wind zerzaust.
    Als Eleanor Sachs die Speisekarte ablegte und zu dem Ober aufsah, stach Pallioti das schlechte Gewissen. In dem großen, geschäftigen und lauten Restaurant voller Familien sah sie ungeheuer klein und einsam aus. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er zu der Frau neben seinem Platz und stand auf. Er spürte Saffys Augen in seinem Rücken, während er sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch suchte.
    »Signora?«
    Sie sah so erschrocken auf, dass sich Pallioti fast entschuldigt hätte, während er ihr die Hand reichte. Eleanor Sachs schüttelte sie zaghaft und lächelte dann.
    »Posso?« Er deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. »Nur für einen Augenblick?«
    » Certo. Natürlich. Es wäre mir ein Vergnügen.«
    Sie sah durch den Raum auf die Tischrunde am Fenster.
    »Ist das Ihre Familie?«
    Er nickte. »Mehr oder weniger.«
    »Sie können sich glücklich schätzen.« Sie sah ihn wieder an. »Ich meine, das muss nett sein. Wenn alle hier zusammensitzen.«
    Pallioti blickte auf den Tisch und sah erst jetzt, wie die Szene auf sie wirken musste. Eine große, wohlhabende, fröhliche Gruppe, die gemeinsam an einem frühwinterlichen Sonntagnachmittag beim Essen saß. Er hatte das nie wirklich so betrachtet, aber sie hatte recht. Er konnte sich glücklich schätzen.
    Bevor er sich zurechtgelegt hatte, wie oder ob er das ausdrücken sollte, kehrte der Ober

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