Die Toten der Villa Triste
aus Ihrem Mund ein bisschen albern klingt.«
»Das wollte ich nicht.« Sie sah ihn an. »Ich glaube, es stimmt. Das mit den Städten und den Menschen. Wenn man erst einmal so alt ist wie ich, erscheint einem das Leben zu kurz, um überhaupt etwas richtig kennenzulernen. Was mich immer noch überrascht. Sie müssen das bei Ihrer Arbeit doch auch erleben?«
»Ständig.« Die Antwort kam mit mehr Inbrunst, als er beabsichtigt hatte. Pallioti lachte. »Ich habe gemerkt, dass ich mir nur in einem sicher sein kann«, sagte er. »Darin, dass ich kaum etwas weiß und mich selbst dabei wahrscheinlich noch irre.«
»Wie lösen Sie dann jemals einen Fall?« Sie stellte das Glas ab und wurde plötzlich ernst. »Wie können Sie je einen Fall lösen oder jemanden vor Gericht bringen, wenn Sie nichts mit Bestimmtheit wissen können?«
»O nein, ich habe nicht gesagt, dass man nichts wissen kann. Ich habe von der Menge des Wissens gesprochen. Eigentlich ist es vor allem eine Frage der Hartnäckigkeit«, beantwortete er ihre Frage. »Man muss das Bild nur richtig zusammensetzen. Stück für Stück. Bis man es erkennt. Bis die Geschichte einen Sinn ergibt. Bis alle Teile zusammenpassen. Ohne zu mogeln. Ohne etwas abzuschneiden oder zurechtzubiegen. Dann weiß man Bescheid. Nicht dass es einem immer hilft«, schränkte er ein. »Aber das ist egal, denn meistens fangen die Menschen von selbst zu reden an. Wenn man nur lang genug wartet.«
»Sie gestehen?« Sie lächelte, als könnte sie das kaum glauben.
Pallioti nickte. »Irgendwann. Manchmal merken sie nicht, dass sie es tun. Aber sie tun es.«
»Es stimmt also – der Spruch mit der Verlockung der Beichte –, dass Polizisten wie Priester sind.«
»Wahrscheinlich, Signora.« Pallioti spielte mit seinem Glas. »In mehr Aspekten, als man glauben würde.«
»Das hört sich fast düster an.«
Bevor Pallioti darauf antworten konnte, kam Bernardo an ihren Tisch. Beide Gläser waren fast leer. Er füllte sie auf und verschwand wieder durch den Gästeraum. Ihr in die Ecke gerückter Tisch ruhte wie eine Insel inmitten von flackerndem Licht und dem warmen Plätschern fremder Stimmen.
»Meinen Sie nicht auch«, meinte Signora Grandolo kurz darauf, »dass es weniger darauf ankommt, was die Menschen Ihnen erzählen, als vielmehr darauf, dass Sie genau wissen, worauf Sie hören müssen? Ich würde«, erklärte sie, »Polizisten, genauer gesagt: gute Polizisten – und ehrlich gesagt glaube ich, dass es davon nur sehr wenige gibt – eher mit Jagdhunden als mit Priestern vergleichen. Damit meine ich nicht ihren Spürsinn. Ich meine damit, dass sie vieles hören – das leise Pfeifen. Das Rascheln im Unterholz, das allen anderen entgeht. Vermutlich ist es eine Gabe.« Sie lächelte wieder. »So etwas wie das absolute Gehör. Nur die wenigsten besitzen es. Und man kann es nicht erlernen.«
Pallioti breitete die Hände aus. »Vielleicht.«
Tatsächlich war er überzeugt, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Dass er diesen detektivischen Spürsinn besaß, war ihm bewusst, seit er bei der Polizei angefangen hatte, und es hatte ihn immer ein bisschen verlegen gemacht, auch weil diese »Gabe«, so wie jede Gabe, nur wenig mit Logik und noch weniger mit persönlichen Verdiensten zu tun hatte. Dass er so schnell Karriere gemacht hatte, darüber war er sich im Klaren, war nur zum Teil sein eigenes Verdienst.
Signora Grandolo beobachtete ihn. »Sie zum Beispiel«, setzte sie dann an. »Sie haben etwas gehört, obwohl es sich vor Jahrzehnten ereignet hat, habe ich recht? Nur deswegen haben Sie neulich Abend nach diesen drei Männern gesucht.«
Er sah sie an, wobei er das Glas mit beiden Händen umfasste.
»Haben Sie die Männer gefunden?«, fragte sie.
Die klare, träge Flüssigkeit schmiegte sich schimmernd an den Glasrand.
»Ja.«
Pallioti roch das dezente Aroma ihres Parfüms, das sich mit dem Brandduft der Kerze mischte.
»Ja«, wiederholte er. »Ich habe sie gefunden.«
»Und haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?«
»Ich glaube schon.« Er sah sie an. »Zwei davon sind tot. Der dritte …« Er schüttelte den Kopf. »Der dritte, Signora, gehört zu jener Sorte Mensch, die wir damals loswerden wollten, als wir Krieg geführt haben.«
»Wir werden sie niemals loswerden. Diese Sorte Mensch.« Sie streckte die Hand aus und legte die Finger auf seinen Handrücken. »Auch das hat Cosimo mich gelehrt. Diese Menschen gehören zu uns. Wir können bestenfalls versuchen, ihre
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